Die Infektionszahlen steigen wieder - und die kalten Monate kommen erst. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sagt: Im Sommer wurden Chancen ausgelassen, um Lösungen für Herbst und Winter zu finden
von Jonas-Erik Schmidt, dpa, 29.09.2020
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hält das deutsche Gesundheitssystem für gut vorbereitet auf den Herbst und Winter in Corona-Zeiten. In den Köpfen der Deutschen sieht es seinem Empfinden nach allerdings anders aus - und das bereitet ihm Sorgen. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht er über die Verantwortung der Bürger, den vielbeschworenen "Kipppunkt" und was passiert, wenn neben dem Coronavirus auch noch die Grippe grassiert.
Vorstellbar. Ich setze aber darauf, dass die Leute Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen. Fast jeder von uns kennt ältere Menschen oder Menschen aus Risikogruppen, für die eine Infektion gefährlich werden kann. So eine Pandemie kann man nur gemeinsam bewältigen.
Es ist vielschichtiger. Ja, es waren zuletzt die Jüngeren, die sich infizierten. Hinzu kommt aber, dass wir generell kaum schwere virale Lungenentzündungen im Sommer sehen - das gilt für alle viralen Erkrankungen. Es ist ein Phänomen, das wir kennen, ohne dass wir schon den Mechanismus dahinter verstehen. Dritter Punkt: Wir wissen zum Beispiel für die Grippe, dass eine Reduktion der Infektionsdosis mildere Symptome verursacht. Und dafür sorgen wir mit Verhaltensweisen wie Abstand und dem Tragen einer Maske.
Ja. Eine asymptomatische Infektion ist ja zunächst einmal nichts Schlimmes. Die Person kann sich danach vermutlich erstmal nicht mehr infizieren und auch nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen. Zudem ist es nicht auszuschließen, Langzeitfolgen zu haben. Daher finde ich es wichtig, dass wir nicht nur auf die reinen Infektionszahlen schauen. Wir dürfen sie natürlich nicht außer Acht lassen.
Aber wichtiger ist, dass wir aus den Daten lernen. Die Auslastung in der stationären Behandlung und der Anteil der belegten Intensivbetten müssen meines Erachtens nach im Verhältnis mit eingerechnet werden. Anhand dieser Daten müssen wir die Schwellenwerte definieren, ab denen Maßnahmen strikter werden.
Dafür gibt es keine Erfahrungswerte. Den Kipppunkt haben wir noch nie gehabt. Wir hatten bislang nie einen exponentiellen Anstieg. Auch jetzt sehen wir eher einen linearen Anstieg.
Das Virus ist ja schon Teil von unserem Alltag. Wir würden es nur mit den allerhärtesten Maßnahmen schaffen, es einzudämmen. Dann aber errichten wir eine Art künstlichen Staudamm, während es in anderen Ländern weiterläuft.
Und irgendwann wird es dann auch bei uns wieder losgehen. Daher müssen wir mit Augenmaß und intelligenten Systemen - etwa Schnelltests am Eingang eines Pflegeheims - das Geschehen kontrollieren. Es kann nicht darum gehen, es komplett einzudämmen.
Gleichzeitige Infektionen mit Grippe und einem anderen Virus sind sehr, sehr unwahrscheinlich. Weil das Immunsystem im Moment einer Infektion so im Alarm ist, dass eine zusätzliche Infektion mit einer weiteren viralen Erkrankung sehr selten vorkommt. Es kann in Ausnahmefällen passieren und es gibt auch Publikationen, in denen das beschrieben wird. Aber dann ist die zweite Infektion untergeordnet. Daher gibt es keine Doppelsymptomatik im eigentlichen Sinne.
Ich glaube, im Gesundheitssystem sind wir sehr gut vorbereitet. Mental sind wir dagegen in Deutschland weniger gut vorbereitet, so empfinde ich es zumindest. Es gibt zu viel Angst. Und wir haben es über den Sommer hinweg nicht geschafft, pragmatische Lösungen zu finden, wie man in bestimmten Bereichen weiter machen kann, wenn die Infektionszahlen deutlich steigen. Da wurden Chancen ausgelassen. Meine Sorge für den Herbst ist, dass wir zu wenig über Lösungen diskutieren und zu viel darüber, wie wir das Leben wieder zurückfahren.
Zur Person: Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Die Corona-Pandemie begleitet er als Experte und Forscher. Unter anderem hat er für eine Studie die Ausbreitung des Virus im Kreis Heinsberg untersucht, einem der ersten deutschen Corona-Hotspots. Eines seiner Spezialgebiete ist die HIV-Forschung. In seiner Laufbahn war Streeck, der bei Göttingen aufwuchs, unter anderem an der Harvard Medical School in Boston tätig.