Längeres Leben dank Abnehmspritze mit Semaglutid?
Eigentlich wurden sie entwickelt, um einen Typ-2-Diabetes zu behandeln, doch mittlerweile erfahren Abnehmspritzen mit dem Wirkstoff Semaglutid, die unter Namen wie Wegovy oder Ozempic vertrieben werden, einen Hype im Kampf gegen Übergewicht. Wissenschaftler haben auf der Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in London und auf der Jahrestagung der Europäischen Diabetesgesellschaft (EASD) in Madrid jetzt Studienergebnisse geteilt. Die deuten darauf hin, dass man mit dem Wirkstoff Semaglutid noch mehr erreichen könnte. Er soll für Menschen mit Übergewicht womöglich eine lebensverlängernde Wirkung haben. Was ist dran? Wir haben zwei Experten gefragt.
Wie wirkt Semaglutid?
Der Wirkstoff Semaglutid ist verschreibungspflichtig und wird primär bei Menschen mit Diabetes Typ 2 eingesetzt. In bestimmten Fällen wird er auch als Unterstützung beim Abnehmen verschrieben. Das Mittel wird in der Regel als Spritze verabreicht, ist für die Behandlung des Diabetes Typ 2 aber auch als Tablette erhältlich. Abhängig vom Anwendungszweck gibt es Semaglutid in verschiedenen Dosierungen und mit unterschiedlichen Produktnamen.
Semaglutid funktioniert bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes, indem es das Sättigungsgefühl steigert, die Insulinfreisetzung nach Mahlzeiten fördert und die Glucagonausschüttung hemmt. Glucagon ist ein Gegenspieler von Insulin und erhöht unter anderem den Blutzucker. Außerdem sorgt Semaglutid dafür, dass der Magen langsamer als gewöhnlich geleert wird. Auch dadurch hat man weniger Appetit – und es kann zu einer Gewichtsabnahme kommen.
Was sagt die neue Studie über Semaglutid und die Sterblichkeit?
Die neuen Daten, die Wissenschaftler auf den Kongressen der ESC und EASD vorgestellt haben, stammen unter anderem aus der Select-Studie in den USA, an der 17.600 Menschen, ab 45 Jahren teilnahmen. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren alle übergewichtig oder fettleibig – und es lag eine Herz-Kreislauf-Erkrankung vor, aber kein Diabetes. Sie erhielten im Rahmen der Studie entweder den Wirkstoff Semaglutid oder ein Placebo. Danach wurden sie mehr als drei Jahre lang überwacht.
Das Ergebnis, das die Wissenschaftler beim ESC in London vorgestelldt haben: Die Menschen, die Semaglutid einnahmen, starben seltener an den untersuchten Ursachen – darunter vor allem Probleme des Herz-Kreislauf-Systems. In der Studie reduzierte sich die Sterblichkeit der Teilnehmer um 20 Prozent.
Ein möglicher Grund dafür: Unabhängig vom Geschlecht verringerte das Medikament das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Es kam zu einer Senkung von Gewicht, Blutzucker, Blutfetten sowie von Blutdruck und Herzrhythmusstörungen. Außerdem soll die Einnahme von Semaglutid bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Symptome einer Herzinsuffizienz reduziert, Nierenkrankheiten rückgängig gemacht und die Entzündungswerte verringert haben.
Auch das Risiko, an Covid-19 zu sterben, soll laut den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit der Einnahme von Semaglutid um 34 Prozent zurückgehen. Jedoch sind weitere Forschung und Langzeitstudien erforderlich, um die vollständigen Auswirkungen und die Sicherheit von Semaglutid bei verschiedenen Patientengruppen zu bestätigen.
Wie ordnen Experten die Studie ein?
Professor Andreas Pfeiffer, Direktor der Abteilung Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin an der Charité-Universitätsmedizin in Berlin, führt die positiven Effekte von Semaglutid auf die Sterblichkeit vor allem auf die Gewichtsreduktion zurück, die häufig durch die Einnahme erreicht wird.
„Das Sterberisiko ist bei Menschen mit einem BMI von 35 generell höher als das bei Menschen mit einem BMI von 25“, erklärt er. Eine Gewichtsabnahme verbessere den Stoffwechsel erheblich – und damit auch Blutfett- und Zuckerwerte. Denn auch, wenn die Studienteilnehmer keinen Diabetes hatten, kommt Insulinresistenz bei Menschen mit Adipositas deutlich häufiger vor als bei Menschen mit gesundem BMI. „Durch die verbesserten Stoffwechselprozesse, die durch Semaglutid erreicht werden, verringert sich die Sterblichkeit zusätzlich – unabhängig von der Gewichtsabnahme“, erklärt Pfeiffer. Bisher gebe es jedoch keine Studie, die das eindeutig zeige.
Professor Holger Willenberg, Leiter der Sektion für Endokrinologie und Stoffwechselkrankheiten der Universitätsmedizin Rostock, hält die Daten aus der Studie für „den Erwartungen entsprechend“. Denn: „Ich lebe grundsätzlich länger, wenn ich eine geringere Insulinlast im Blut habe.“ Das erreiche die Gewichtsabnahme durch Semaglutid quasi automatisch, weil mit einem niedrigeren BMI in der Regel weniger Insulin vom Körper benötigt werde. „Stoffwechselprozesse können so optimiert werden“, sagt Willenberg.
Warum schlägt ein gesunder Lebensstil die Spritze?
Generell hält er Medikamente wie Ozempic und Wegovy für einen Gewinn in der Medizin. „Der Wirkstoff Semaglutid hilft nicht nur, Stoffwechselprozesse im Körper zu optimieren, sondern auch, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu verbessern.“
Ozempic und Co. als Lifestyle-Medikament einzunehmen, sieht Willenberg allerdings kritisch: „Vielen Menschen gefällt natürlich die Idee, sich Semaglutid zu spritzen. Nicht viel am Lebensstil ändern zu müssen, aber trotzdem einen Abnehm-Effekt zu haben – bei sowas ist der Hype natürlich groß.“
Der Wirkstoff aus den Spritzen helfe zwar dabei, weniger zu essen, und könne somit vielleicht einen Anstoß oder eine erste Motivation geben. „Meine Muskeln verbessert er nicht. Da muss ich schon selbst aktiv werden“, relativiert Willenberg. Dafür brauche es jedoch kein ausgeklügeltes Sportprogramm, das diszipliniert eingehalten wird. „10.000 Schritte am Tag haben bereits einen enormen Effekt“, so der Experte. Ergebnisse einer aktuellen Analyse, für die verschiedene Studien untersucht wurden, zeigen sogar: Schon 4000 Schritte am Tag können die Sterblichkeit senken.
Prof. Pfeiffer betont auch den großen Einfluss von gesunder Ernährung auf das Immunsystem – also Vollkornbrot statt Weißbrot, weniger Zucker und umso mehr pflanzliche Produkte wie Gemüse und zuckerarmes Obst, dazu gesunde Fette. „Die Menschen wissen selbst meist sehr gut, was gesund für sie wäre“, beobachtet er. Zusammen mit Sport sei auf diese Weise ein wichtiger Schritt für ein möglichst langes, gesundes Leben getan. Auch Pfeiffer schätzt, dass Ozempic und Co. einen ersten Impuls in die richtige Richtung geben könnten. „Mit 20 Kilogramm weniger geht es vielen Menschen schon viel besser. Sie können wieder aktiver sein – und vielleicht auch ihren Lebensstil dadurch anpassen.“
Was sind mögliche Nebenwirkungen von Präparaten mit Semaglutid?
Allerdings kann die Therapie mit Semaglutid auch Risiken bergen: Weil der Wirkstoff generell auf Dauer eingenommen werden sollte, um Jojo-Effekte zu vermeiden, könnten auch Nebenwirkungen dauerhaft auftreten. Zudem sind mögliche Langzeitfolgen noch nicht bekannt.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen:
- Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, Obstipation, Bauchschmerzen, Blähungen
- Kopfschmerzen, Schwindel und Erschöpfung
- Hypoglykämie (vor allem in Kombination mit anderen Diabetesmedikamenten)
- Verschlechterung einer diabetischen Retinopathie (Augenerkrankung)
- Haarausfall-Reaktionen an der Injektionsstelle
Quellen:
- Deanfield J, Verma S, Scirica B et al.: Semaglutide and cardiovascular outcomes in patients with obesity and prevalent heart failure: a prespecified analysis of the SELECT trial. The Lancelet: https://www.thelancet.com/... (Abgerufen am 25.09.2024)
- Banach M, Lewek J, Surma S: The association between daily step count and all-cause and cardiovascular mortality: a meta-analysis . National Library of Medicine: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 26.09.2024)