Von wegen blaues Wunder – Experten warnen vor Methylenblau
Die Chemikalie Methylenblau soll angeblich das Immunsystem stärken, das Gedächtnis verbessern und sogar Krebs vorbeugen. Menschen, die auf TikTok oder YouTube ihre schlumpfblauen Zungen in die Kamera strecken, schwärmen, dass sie sich seit der Einnahme dieser Substanz vitaler und gesünder fühlen. Manche preisen den Farbstoff gar als blaues Wunder an.
Einige Befürworterinnen und Befürworter bezeichnen sich selbst als Biohacker. Ihr Ziel ist es, die menschliche Biologie zu verstehen und das gewonnene Wissen bestmöglich für sich zu nutzen. Manche berufen sich dabei sogar auf wissenschaftliche Studien, die sie allerdings auf ihre eigene Weise deuten. Fachleute jedenfalls warnen davor, Methylenblau zu schlucken. Hier erklären wir, aus welchen Gründen.
Was ist Methylenblau?
Die Chemikalie Methylenblau wurde ursprünglich hergestellt, um Kleidung zu färben, und sie wird heute noch dafür eingesetzt. Doch es gibt weitere Einsatzgebiete: Methylenblau hilft beim Nachweis bestimmter Bakterien unter dem Mikroskop, indem es diese anfärbt und sichtbar macht.
Welche medizinischen Anwendungen gibt es für Methylenblau?
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkannte der deutsche Forscher und Arzt Paul Ehrlich, dass der Farbstoff gegen Malaria wirkt und setzte Methylenblau erstmals zur Therapie dieser Tropenkrankheit ein. [1]Später wurde die Substanz durch bessere synthetische Mittel ersetzt. Vor einigen Jahren wurde Methylenblau erneut an Menschen getestet, um zusammen mit anderen Malaria-Mitteln Erreger zu bekämpfen, die auf herkömmliche Medikamente nicht mehr ansprachen.[2] Doch es folgte keine weitere, größere Studie mit diesem Wirkstoffmix und daher auch keine Zulassung als Malaria-Medikament.
Heutzutage ist Methylenblau ein Notfallmedikament. Ärztinnen und Ärzte nutzen es vor allem als Gegenmittel bei Nitrit- und Anilinvergiftungen.[3] Unter dem Einfluss dieser Stoffe nimmt die Fähigkeit des Blutes ab, Sauerstoff aus den Lungen zu den Organen zu transportieren. „Wir sehen solche Vergiftungen beispielsweise nach Arbeitsunfällen mit Anilinfarbstoffen. Zu einer solchen Vergiftung kann es auch durch die Einnahme sogenannter Poppers kommen. Das sind Drogen, die Amylnitrit enthalten und in der Homosexuellen-Szene verbreitet sind“, sagt Prof. Dr. Florian Eyer, Chefarzt der Abteilung für Klinische Toxikologie am TUM Klinikum der Technischen Universität München. Hintergrund: Poppers sollen die sexuelle Lust steigern. Und sie entspannen die Muskeln. Was wiederum den Analsex erleichtert. Kommt es zum Notfall, injiziert die Ärztin oder der Arzt eine bestimmte Dosis Methylenblau, um die Vergiftung zu behandeln.
Warum raten Fachleute davon ab, Methylenblau für gesundheitliche Zwecke einzusetzen?
Therapeutisch darf Methylenblau nur von Ärztinnen und Ärzten als Injektion angewendet werden. Die Chemikalie Methylenblau gibt es allerdings auch zum Beispiel im Internet als Pulver oder Lösung. Sie ist zur Färbung von Papier oder Textilien vorgesehen – oder zum Mikroskopieren. „Methylenblau ist in der EU nicht als Nahrungsergänzungsmittel oder Lebensmittel(zusatz) zugelassen. Somit ist auch der Reinheitsgrad fragwürdig,“ warnt Susanne Lutz, Professorin für Biochemische Pharmakologie am Institut für Pharmakologie und Toxikologie an der Universitätsmedizin Göttingen. So muss nicht kontrolliert werden, ob das Präparat zum Beispiel mit Fremdstoffen verunreinigt ist. Die meisten Hersteller kennzeichnen Methylenblau mit dem Hinweissatz „Gesundheitsschädlich bei Verschlucken“.
Wird Methylenblau in Apotheken verkauft?
Auch Apotheken können die Chemikalie Methylenblau verkaufen. Apothekerinnen und Apotheker sind jedoch angehalten, bei jeder Nachfrage nach dem Farbstoff den Verwendungszweck zu erfragen. „Arzneimittel unterliegen zu Recht strengen Anforderungen an Reinheit, Qualität und Sicherheit. Chemikalien – wie Methylenblau oder andere Substanzen – müssen diese hohen Anforderungen nicht erfüllen, da sie nicht zur Einnahme vorgesehen sind“, sagt Dr. Ursula Sellerberg, Apothekerin und stellvertretende Pressesprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, kurz ABDA. Sie rät grundsätzlich dringend davon ab, Chemikalien einzunehmen. „Die Risiken sind unkalkulierbar“, erklärt Sellerberg. Apotheken sind auch nicht dazu verpflichtet, Methylenblau zu verkaufen. In einer aktuellen Stellungnahme auf Facebook rät die ABDA den Apothekenteams sogar generell davon ab, den Farbstoff zu verkaufen.
Welche Risiken birgt die Einnahme von Methylenblau?
Die übliche Dosis für das Medikament sind 1 bis 2 Milligramm (mg) pro Kilogramm (kg) Körpergewicht: die Ärztin oder der Arzt injiziert das Methylenblau über einen Zeitraum von fünf Minuten hinweg. Insgesamt darf die Höchstdosis von 7 mg/kg Körpergewicht nicht überschritten werden. Wenn das passiert, kann die betroffene Person in Sauerstoffnot geraten.
Wer die Chemikalie Methylenblau schluckt, handelt entgegen dem vorgesehenen Einsatzzweck und auf eigenes Risiko. Es kann dabei zur Überdosierung kommen. Sie macht sich bemerkbar durch Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerzen. „In höheren Dosen kann es auch zu schweren Nebenwirkungen bis zur Hämolyse, also bis zum Auflösen der roten Blutkörperchen führen“, warnt Experte Eyer.
Auch die Kombination von Methylenblau mit anderen Wirkstoffen birgt Risiken. Methylenblau hemmt unter anderem ein bestimmtes Enzym im Körper (die sogenannte Monoaminooxidase A). Dieses Enzym wiederum blockiert unter anderem den Abbau des Nervenbotenstoffs Serotonin. Wenn jemand ein Präparat einnimmt, das den Serotoninspiegel erhöht, kann es zu einem Überangebot des Botenstoffs kommen. Das kann das potenziell lebensbedrohliche Serotonin-Syndrom auslösen.[4] Unterschiedliche Substanzen haben diese Wirkung. Zum Beispiel bestimmte Antidepressiva und Antibiotika, das Opioid Tramadol oder die Droge Ecstasy. Typische Merkmale bei einem leichten Verlauf des Serotonin-Syndroms: Der Herzsschlag wird schneller, der Blutdruck steigt, die Körpertemperatur erhöht sich. Betroffene sind unruhig und ängstlich. Die Muskeln werden steif oder zittern. „Das ist ein ernstzunehmendes Krankheitsbild, mit dem wir in der klinischen Toxikologie immer mal wieder zu tun haben“, sagt Experte Eyer. Ein schwerer Verlauf kann zum Organversagen bis zum Tod führen.
Kann Methylenblau – richtig dosiert – dem Gehirn einen Energieschub bringen?
Viele Biohacker dürften sich der Risiken durch Methylenblau nicht bewusst sein. Sie schwärmen in den sozialen Medien davon, dass sie deutlich mehr Energie hätten und sich besser konzentrieren könnten, seitdem sie Methylenblau schlucken.
Theoretisch wäre eine solche Schutzwirkung vorstellbar, in Studien nachgewiesen wurde sie bislang nicht. „Dank seiner physikochemischen Eigenschaften kommt das Methylenblau tatsächlich in die Zelle – und dann auch in die Mitochondrien“, sagt Theo Dingermann, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen. „Methylenblau sorgt in ihnen sogar für einen kurzzeitigen Energieschub. Aber der ist nicht anhaltend. Und es ist sehr fraglich, ob er für den Menschen überhaupt wahrnehmbar ist.“
Hilft Methylenblau bei bestehenden Gehirnerkrankungen?
Ob Schlaganfall, manisch-depressive Erkrankung, Parkinson oder Alzheimer: In den vergangenen Jahren wurde erforscht, ob sich Methylenblau zur Therapie dieser und noch weiterer Krankheiten eignet.[5] Doch bislang ohne eindeutig nachgewiesenen Nutzen. Bei Alzheimer galt Methylenblau einige Jahre lang als Hoffnungsträger. Doch die Euphorie unter Wissenschaftlern ist längst verflogen. Obwohl einige Studien eine Wirksamkeit bei Alzheimer nahelegten, erfüllte Methylenblau schließlich nicht die Erwartungen. Die Substanz schnitt nicht besser ab als ein Scheinpräparat. Das ergab eine Studie mit 890 Freiwilligen, deren Ergebnisse im Jahr 2016 in der Fachzeitschrift Lancet veröfentlicht wurde.[6] „Der Ansatz wurde aufgrund der enttäuschenden Ergebnisse nicht weiterverfolgt“, weiß Dr. Katharina Bürger, Leiterin der Gedächtnisambulanz des LMU Klinikums in Großhadern und erste Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft München.
Was ist das Fazit aus den Erkenntnissen zu Methylenblau?
Fachleute hoffen, dass der Hype um Methylenblau in den sozialen Medien bald wieder abebbt. Denn für medizinische Laien ist das Risiko bei der Einnahme von Methylenblau kaum einzuschätzen – und ein gesundheitlicher Nutzen ist nicht nachgewiesen. Auch wenn manche Biohacker das behaupten und dazu Studien zitieren.
Quellen:
- [1] Guttmann P. , Ehrlich P.: Ueber die Wirkung des Methylenblau bei Malaria. Berliner Klinische Wochenschrift: https://www.pei.de/... (Abgerufen am 23.09.2024)
- [2] Dicko A, Roh ME, Diawara H et al. : Efficacy and safety of primaquine and methylene blue for prevention of Plasmodium falciparum transmission in Mali: a phase 2, single-blind, randomised controlled trial. In: Lancet Infect Dis.: 06.02.2018, https://doi.org/...
- [3] DocCheck Community GmbH: Methylenblau. DocCheckFlexikon: https://flexikon.doccheck.com/... (Abgerufen am 23.09.2024)
- [4] Ramsay RR, Dunford C, Gillman PK: Methylene blue and serotonin toxicity: inhibition of monoamine oxidase A (MAO A) confirms a theoretical prediction. In: Br J Pharmacol.: 27.08.2007, https://doi.org/...
- [5] Tucker D, Lu Y, Zhang Q.: From Mitochondrial Function to Neuroprotection-an Emerging Role for Methylene Blue. In: Mol Neurobiol.: 24.08.2017, https://doi.org/...
- [6] Gauthier S, Feldman HH, Schneider LS et al.: Efficacy and safety of tau-aggregation inhibitor therapy in patients with mild or moderate Alzheimer's disease: a randomised, controlled, double-blind, parallel-arm, phase 3 trial. In: Lancet: 16.11.2016, https://doi.org/...
- ABDA: Abgabe von Chemikalien. https://www.abda.de/... (Abgerufen am 23.09.2024)