Dunkel, schwammig und 500 Gramm schwer, sieht die Plazenta aus wie blutiger Fladen. Nicht gerade appetitlich. Dennoch behaupten Prominente wie Tom Cruise und Kim Kardashian, sie verspeist zu haben. Starkoch Jamie Oliver nahm die Bezeichnung Mutterkuchen ernst und postete sogar ein Rezept.

Keinen Appetit auf Plazenta-Parfait? Auch gut. Trocknen, ein Amulett daraus machen oder Plazenta-Globuli herstellen lassen?

Im Netz gibt der Hype um die Nachgeburt Vollgas. Hebammenblogs und Frauenzeitschriften übertreffen sich in Anregungen. Doch selbst wenn Plazenta-Gemälde oder Armreife aus getrockneter Nabelschnur nicht jedermanns Geschmack treffen – der Wirbel hat auch etwas Gutes: Er lenkt das Interesse auf ein faszinierendes Organ, das viel mehr ist als ein Anhängsel.

Ein Grenzorgan, das verbindet

Wenn im Mutterleib ein Embryo heranwächst, tut er das nie allein. Von dem Zellhäufchen, das sich nach seiner Wanderung durch den Eileiter in der Gebärmutter einnistet, ist ein Teil auf Plazenta programmiert. Diese schlägt Wurzeln in der Gebärmutterschleimhaut und wächst zu einem Grenzorgan heran, das Mutter und Kind bis zur Geburt verbindet. Für den Embryo ist es Lunge, Niere, Leber, Verdauungstrakt und wichtige Hormondrüse in einem.

"Wir zeigen den Eltern die Plazenta nach der Geburt und erklären ihre  Funktion", sagt Professor Christoph Scholz, Leiter der Münchner Frauen-  und Geburtskliniken Harlaching und Neuperlach. Der Mutterkuchen ist  Eigentum der Frau, die ihn geboren hat. Wer ihn nach Hause nehmen  möchte, bringt am besten eine Tupperschüssel mit. In ihr lagert die  Plazenta sicher im Klinikkühlschrank, bis sich die Wöchnerin erholt hat.

Doch  bislang wird diese Möglichkeit in den Münchner Geburtskliniken noch  selten genutzt. Die meisten Nachgeburten werden – zusammen mit  entfernten Tumoren und anderem Gewebemüll – von der Klinik als  organischer Sondermüll entsorgt. "Wir gehen oft respektlos mit unserer  Plazenta um", findet Dr. Judith Kouematchoua Tchuitcheu. Die Hamburger  Gynäkologin hat dem Organ eine Doktorarbeit gewidmet, die zeigt, dass es  einmal anders war – auch hierzulande.

Im Frühjahr 1984 machten  Mitglieder der Historischen Gesellschaft Bönnigheim im Keller eines  alten, zum Abriss freigegeben Hauses eine rätselhafte Entdeckung: Im  Boden fanden sich mehr als 50 Tontöpfe, manche davon mit dem Deckel nach  unten vergraben. Vorratsbehälter konnten es also nicht sein. Doch wozu  dienten sie?

Plazenta im Tontopf

Als die Lokalpresse  berichtete, meldeten auch andere  württembergische Gemeinden ähnliche  Funde. Forscher analysierten die  braunen, porösen Rückstände, die sich  in vielen Gefäßen fanden. Die  hohe Konzentration an Östrogenen ließ nur  einen Schluss zu: Sie  enthielten menschliche Nachgeburt. "Der Brauch,  die Plazenta zu  vergraben, ist weitverbreitet", sagt Kouematchoua. Ob im  Keller, unter  der Schwelle des Hauses oder im Familiengrab.

Ein nährendes Organ

Dass  der Mutterkuchen eine nährende Funktion hat, vermuteten schon  Mediziner  der griechischen Antike. Und so gab man ihn nach der Geburt  der  ebenfalls nährenden Mutter Erde zurück, oft in einem   bestattungsähnlichen Ritual. Doch galt die Nachgeburt nicht nur als   Nährerin. "Was man in ihr sah, erkennt man, wenn man die Bezeichnung für   sie über- setzt", sagt die Frauenärztin.

In Kamerun heißt die  Plazenta "Sessel des Kindes", bei den Letten  "andere Hälfte", in Mexiko  sieht man in ihr den "Gefährten", in Uganda  sogar den "Zwilling des  Kindes" – eine Vorstellung, die sich weltweit  findet. Die Überzeugung  von der innigen Beziehung zum Kind machte es  im Mittelalter auch  hierzulande nötig, die Nachgeburt vor bösen Mächten  zu verbergen. "Man  glaubte, dass man damit Schadzauber ausüben könne",  erklärt  Kouematchoua.

Heilsversprechen

In alten Arzneibüchern wird die Planzenta regelmäßig als heilsam empfohlen. Gepriesen wird vor allem ihre Wirkung gegen Unfruchtbarkeit. Eingenommen wurde Plazenta-Pulver zudem als Aphrodisiakum sowie gegen Epilepsie und Tobsucht. Äußerlich setzte man sie gegen Brustentzündung ein.

Heute wird die Plazenta noch in der traditionellen chinesischen Meidzin sowie hierzulande in der Homöopathie verwendet. In spezialisierten Apotheken können sich Frauen Plazenta- und Nabelschnurblut-Globuli herstellen lassen.

Helfen sollen diese laut Homöopathen bei allen möglichen Beschwerden von Mutter und Kind, von der Stressprophylaxe bei der Taufe bis zu Periodenproblemen.

Zur Zeit der Hexenverfolgung dachte man etwa, böse  Zauberinnen   würden sie nützen, um daraus einen soge- nannten  Wechselbalg, also   einen bösen, missgestalteten Zwilling des Neugeborenen  herzustellen,   den sie dann mit dem echten Kind vertauschten. Eine  Bestattung des   Mutterkuchens im Keller sollte womöglich davor schützen.

Auch  wenn man längst nicht mehr an Hexen glaubt – das Ritual, die   Plazenta  zu vergraben, hat sich in vielen Regionen der Welt gehalten.   In  Deutschland pflanzte man oft einen Birnbaum für ein Mädchen und   einen  Apfelbaum für einen Knaben mit in die Erde. "Ein schöner Brauch",   findet  die Frauenärztin. Dass dieser in Hebammenblogs heute wieder   empfohlen  wird, freut sie. Doch haben nicht nur Geburtshelferinnen ihr   Faible für  das faszinierende Organ neu entdeckt. Auch Mediziner zollen   ihm wieder  mehr Respekt.

Nachgeburt für die Forschung

So  startete 2014 das US-amerikanische National Institute of Child   Health  and Human Development das Human Placenta Project. In   internationaler  Zusammenarbeit wollen Forscher das Verständnis des am   wenigsten  erforschten Organs des Menschen revolutionieren.

Denn wie man  heute weiß: Die Plazenta ist nicht nur lebenswichtig   für den  heranwachsenden Embryo und beeinflusst dessen Entwicklung   lebenslang.  Sie ist auch entscheidend für die Gesundheit der Mutter.   Wie komplex das  Zusammenspiel mit dem kindlichen und mütterlichen   Organismus ist,  bringen neueste Forschungen schrittweise ans Licht.

Zum Beispiel  im Plazenta-Labor des Uniklinikums Jena. "Die Plazenta    schützt das Kind  vor schädlichen Stoffen", so Professor Udo Markert,    Leiter des Labors.  Allerdings nicht vor allen: Alkohol, Nikotin, aber    auch manche  Medikamente überwinden die Plazentaschranke. Sie besteht    aus mehreren  Gewebeschichten und regelt den Stoffaustausch. Für  einige    Arzneiwirkstoffe konnte Markerts Team bereits zeigen, dass sie  die    Schranke nicht überqueren und somit keinen Einfluss auf das  Ungeborene    haben können. Im Beipackzettel wurde daraufhin der  Warnhinweis für    Schwangere gestrichen.

Einfluss aufs Immunsystem

Im  Blick haben die Jenaer Forscher zudem den Einfluss der Plazenta    auf das  Immunsystem von Mutter und Kind. Indem Antikörper aus dem    mütterlichen  Blut in den embryonalen Kreislauf transportiert werden,    entsteht der  Nestschutz des Kindes.

Außerdem macht der Mutterkuchen es erst  möglich, dass höhere    Säugetiere wie der Mensch ihren Nachwuchs austragen  können. Denn der    Embryo ist zur Hälfte genetisch fremd, eigentlich  müsste die    körpereigene Abwehr ihn angreifen. "Die Plazenta verhindert  das auf    verschiedene Weise", sagt Markert. So dämpfen von ihr  produzierte    Schwangerschaftshormone die Abwehr.

Spezifische  Eiweiße auf der Oberfläche der Plazentazellen wirken     ebenfalls aufs  Immunsystem. Als die Ärztin Sophia Johnson das Thema für     ihre  Doktorarbeit vorschlug, war der Leiter des Plazenta-Labors     zunächst  skeptisch: Sie wollte der Placentophagie auf den Grund zu     gehen, so  nennen Fachleute das Verspeisen des Mutterkuchens.

Mutterkuchen im Mixer

Dass  ein bis zwei Prozent der Frauen heute offenbar dem Trend     folgen,  überzeugte Udo Markert dann doch. Die Forscher packten frischen      Mutterkuchen in den Mixer und kochten Rezepte aus dem Internet  nach.     Dann bestimmten sie Hormon- und Schadstoff-Konzentrationen im   Gericht.

Das  Ergebnis: Das Verspeisen des Mutterkuchens scheint     gesundheitlich  weitgehend unbedenklich zu sein. Gefährliche Erreger     oder Giftstoffe  fanden die Forscher in den Plazentamenüs nicht. "Die     Konzentration der  Hormone schwankte allerdings enorm", sagt Markert –     nicht nur durch die  Art der Zubereitung.

Dass Plazenta gegen Baby-Blues oder  Stillprobleme hilft, kann sich      der Forscher aber nicht vorstellen –  selbst wenn sie einst in der      Volksmedizin dazu verwendet wurde. Studien,  in denen die Mütter ihren      Mutterkuchen verspeisten, beobachteten  ebenfalls keine Wirkung.  Auch     das Argument, dass selbst Tiere, die sonst  Grünzeug  bevorzugen, ihre     Nachgeburt fressen, taugt wenig.

Biologen  zufolge soll die schnelle Entsorgung des Mutterkuchens      nötig sein, um  Raubtiere fernzuhalten. Vom Blutgeruch der Nachgeburt      angelockt neigen  diese dazu, Mutter und Kind gleich mitzuverspeisen.   Da    diese Gefahr in  Geburtskliniken eher gering ist, kann man dort   auf   den  Verzehr aber  getrost verzichten.

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