Den Abend des 26. Mai 2018 wird der Torwart Loris Karius wohl nie vergessen. Er endete mit bitteren Tränen, mit einer Entschuldigung bei den Fans, mit gegen ihn gerichteten Morddrohungen. Der deutsche Fußball-Profi hatte im Champions-League-Finale zwei schwere Fehler begangen – Patzer, wie sie sonst nur Kreisliga-Torhütern unterlaufen. Sie kosteten Karius’ Verein FC Liverpool den möglichen Sieg. Allein in Deutschland verfolgten fast zehn Millionen Fernsehzuschauer das Drama. Was war da los?

Das fragten sich auch die Verantwort­lichen des britischen Vereins. Sie schickten ihren Spieler zu einer Untersuchung in eine renommierte Klinik im US-amerikanischen Boston. Ergebnis: Karius litt an einer Einschränkung des räumlichen Sehens sowie weiteren Symp­tomen. Zwei Minuten vor seinem ersten Blackout hatte ihm der gegnerische Verteidiger Sergio Ramos einen Ellbogen-Stoß an die Schläfe verpasst. Dabei habe Karius eine Gehirnerschütterung erlitten, die seine Sehstörung erkläre, so die Ärzte.

Ursachen einer Gehirnerschütterung: Sport, Unfälle und Stürze

Dass Sportler trotz Verletzung weiterspielen, ist nicht ungewöhnlich. Und das nicht nur im Profibereich, sondern auch bei Amateuren und im Schulsport. Vor allem beim Sport, aber auch bei anderen Unfällen oder Stürzen erleiden viele Menschen eine Gehirnerschütterung. 230 000 lagen im Jahr 2016 damit in einem deutschen Krankenhaus, so die Diagnosedaten der Kliniken. Die Dunkelziffer sei viel höher, vermutet ­Dr. Axel Gänsslen, Oberarzt an der unfallchirurgischen Klinik des Klinikums Wolfsburg. Er ist einer der Mannschafts­ärzte des Eishockey-Bundesligisten Grizzlys Wolfsburg und hat deshalb viel Erfahrung mit Gehirnerschütterungen.

Eishockey ist einer Analyse der gesetzlichen Unfallversicherung zufolge in Deutschland jene Sportart, aufgrund derer am häufigsten Schädel-Hirn-Verletzungen diagnostiziert werden. Sein Nebenjob hat Gänsslen dazu bewogen, die Initiative "Schütz deinen Kopf" mitzugründen. Diese versucht, Ärzte, Sportler, Lehrer, Schüler und Eltern für das Thema zu sensibilisieren. Dazu zählt die Aufklärung über Warnzeichen – die offenbar selbst Mediziner häufig unterschätzen.

Die häufigsten Ursachen für eine Gehirnerschütterung

Symptome einer Gehirnerschütterung: Vielfältig und unspezifisch

Noch immer dominiert in der Bevölkerung zum Beispiel die Vorstellung, dass eine Gehirnerschütterung stets mit Bewusstlosigkeit verbunden ist. Das trifft jedoch nur in rund jedem zehnten Fall zu. Manche Patienten haben lediglich Kopfschmerzen, andere müssen sich erbrechen. Betroffene können unter Schwindel oder Sehstörungen leiden, ebenso an Konzentrationsstörungen oder Schläfrigkeit. "Was ihre Symptome betrifft, ist die ­Gehirnerschütterung ein Chamäleon", erläutert Unfallchirurg Gänsslen.

Ähnliches gilt für die möglichen Konsequenzen. Die Reaktionszeit kann sich verlangsamen, die Aufmerksamkeit gestört, der Gleichgewichtssinn beeinträchtigt sein. Möglich sind zudem lang anhaltende Kopfschmerzen, Schlafprobleme und depressive Verstimmungen. Auch das Risiko für Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson wird durch eine Kopfverletzung leicht erhöht. All das kann sich verschlimmern, wenn die Schädel­­decke trotz noch nicht ausgeheilter Gehirnerschütterung einen weiteren Stoß oder Schlag abbekommt. Das Risiko, dass die Symptome chronifizieren, also die Beschwerden dauerhaft auftreten, steigt dann ebenfalls.

Therapie: Überwachung im Krankenhaus und Ruhe

Deshalb ist es enorm wichtig, dass Sportler bei einer Kopfverletzung sofort untersucht werden und das Spielfeld verlassen, wenn sich der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung bestätigt. Auch wer sich auf andere Weise den Kopf heftig stößt, sollte einen Arzt aufsuchen. Meist wird der Patient dann 24 Stunden lang im Krankenhaus überwacht. Denn auch schwe­rere Folgen wie beispielsweise eine Hirnblutung oder -schwellung sind möglich und machen sich häufig nicht sofort bemerkbar. 

Die weitere Therapie besteht in der Regel in ein bis zwei Tagen Ruhe für Körper und Geist. Anders als früher sollten Patienten jedoch nicht eine Woche lang im verdunkelten Zimmer das Bett hüten. "Auf jegliche Reize zu verzichten verzögert die Erholung eher", sagt Experte Gänsslen. Wer nicht licht- und lärm­­empfindlich ist und nicht an Schwindel leidet, kann schon am selben Tag einen Spaziergang machen. Und an den folgenden stufenweise aktiver werden. Verschlechtern sich dabei die Symptome wieder, muss der Patient allerdings bereit sein, die Belastung erneut zu reduzieren.

Dauer der Genesung: Zwischen einer und vier Wochen

Richtig behandelt heilen rund 85 Prozent aller Gehirnerschütterungen binnen einer Woche, 97 Prozent innerhalb von vier Wochen folgenlos aus. Ob etwa Sportler dann schon voll belastbar sind und Schüler wieder am Sportunterricht teilnehmen können, sollte ein Arzt im Einzelfall entscheiden. Allerdings wären dafür spezielle Nachuntersuchungen notwendig. Diese seien jedoch in Deutschland kaum etabliert – ein Manko, wie Eishockey-Teamarzt Gänsslen findet.

Nur ein kleiner Teil der Patienten leidet jahrelang an den Folgen einer Gehirnerschütterung. Verschiedene Faktoren erhöhen dieses Risiko, etwa eine frühere Kopfverletzung oder weitere Erkrankungen wie Migräne, eine Depression oder ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Allerdings: "Nicht alles, was sich nach Spätfolgen anhört, sind auch welche", sagt der Neurologe und Sportmediziner Professor Claus Reinsberger von der Universität Paderborn.

Spätfolgen: Ein weiterer Schlag auf den Kopf ist gefährlich

Ein Arzt sollte zum Beispiel abklären, ob Schwindel oder Schlafstörungen nicht eine andere Ursache haben, und dann bei Bedarf die Behandlung anpassen. Dazu sollten je nach Symptom verschiedene Fachärzte zusammenarbeiten, so Reinsberger. Zum Beispiel Neurologen, Psycho­logen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und Psychiater. Denn die Symptome einer Gehirnerschütterung fallen stark unterschiedlich aus. Sie hängen nicht unmittelbar davon ab, wo ein Stoß den Schädel traf. Das Gehirn prallt nicht nur an dieser Stelle an die Schädeldecke, wie man lange dachte.

Es wirken Rotations- und Scherkräfte, die ein Übriges tun. Noch komplizierter stellen sich die molekularen Veränderungen dar. Vereinfacht gesagt, erleiden die Nervenzellen im Gehirn ein Energiedefizit, das erst einmal ausgeglichen werden muss. Schwierig wird das insbesondere, wenn vor Ende dieser Erholungs­phase ein zweiter Schlag auf den Kopf folgt. Dieser "second impact", wie Fachleute sagen, kann schwere Gehirnschäden nach sich ziehen – in seltenen Fällen sogar den Tod.

Mögliche Symptome bei einer Gehirnerschütterung

Eine Gehirnerschütterung wirkt sich von Fall zu Fall sehr unterschiedlich aus. Das sind mögliche Anzeichen:

Wiederholte Hirnverletzungen können auch zu einer sogenannten Chronisch Traumatischen Enzephalopathie (CTE) führen – zu einer Gehirnkrankheit mit demenzähnlichen Ablagerungen in den Zellen. Bekannt wurden solche Fälle durch Untersuchungen an verstorbenen American-Football-Spielern. Bei ihnen veränderte sich häufig der Charakter, sie hatten Wutausbrüche, wurden depressiv, teils dement, manche nahmen sich das Leben.

Sportpause bei Verdacht auf eine Gehirnerschütterung

Ob CTE auch bei weniger risikoreichen Sportarten vorkommen kann, ist noch unklar. Fest steht jedoch, dass man mit einer Gehirnerschütterung nicht weiterspielen sollte. Immerhin tut sich inzwischen etwas, sagt Claus Reinsberger – im American Football, im Eishockey und auch im Fußball. Der europäische und der Weltfußballverband haben zum Beispiel die Drei-Minuten-Regel eingeführt. Bei Verdacht auf eine Gehirnerschütterung muss der Schiedsrichter ein Fußballspiel für bis zu drei Minuten unterbrechen, damit der Mannschaftsarzt den Spieler untersuchen kann.

Noch wird diese Regel aber nicht rigoros genug angewandt, urteilt Neurologe Reinsberger. Die Initiative "Schütz deinen Kopf" hat eine App entwickelt, die im Amateursport nützen könnte. Die kostenlose Smartphone-Anwendung "GET - Gehirn erschüttert?", zu erhalten in App Stores, soll ­dabei helfen, das Risiko einer Gehirnerschütterung besser einzuschätzen. Sie beinhaltet zum Beispiel einen ­Reaktionstest und misst die Zeit, die der Verletzte zum Ablesen einer Zahlenreihe benötigt. Die Antworten auf spezielle Fragen, etwa zum Spielort, können den Verdacht erhärten.

Bald neue Diagnosemöglichkeit durch Biomarker?

Auch die Medizin sucht nach Wegen zu einer schnellen und objektiven Diagnose. Experten wie Professor Peter Biberthaler, Direktor der Unfallchi­­rurgie am Münchner Klinikum rechts der Isar, arbeiten an Bluttests. Moleküle sollen dabei als Biomarker dienen. "Damit könnten wir zum Beispiel feststellen, ob ein Patient eine Computertomografie benötigt, weil der Verdacht auf eine Hirnblutung besteht", erklärt Biberthaler. 

In den USA wurde ein erster solcher Biotest bereits zugelassen, ist aber noch nicht anwendungsreif. Je nach Biomarker-Wert könnte in Zukunft ein Arzt entscheiden, ob ein Spieler wieder trainieren darf. Selbst bei objektiver, sicherer Dia­gnose bleibt jedoch entscheidend: ­Eine Gehirnerschütterung ist keine Bagatelle. Wer weiterspielt, riskiert längst nicht nur die Häme seiner Fans.