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Sie hausen im ewigen Dunkel, sind mit bloßem Auge unsichtbar, nicht gerade appetitlich – und eines der heißesten Forschungsobjekte derzeit: Die Mikroorganismen im menschlichen Verdauungstrakt. Viele Wissenschaftler trauen ihnen inzwischen eine große Rolle in der Medizin der Zukunft zu. Sie möchten sie nutzen, um Menschen gesünder zu machen – indem sie die Zusammensetzung der Darmflora verändern.

Ein einziges Gramm Darminhalt beherbergt mehr Lebewesen als die Erde Menschen – größtenteils Bakterien, aber auch Viren und Pilze. Insgesamt siedeln etwa 100 Billionen Bakterienzellen im Darm. Mikrobiom nennen Forscher diese Welt der Mikroben heute. Als Professor Dirk Haller von der Technischen Universität München um die Jahrtausendwende begann, sich mit den winzigen Mitbewohnern zu beschäftigen, gab es den Begriff "Mikrobiom" noch gar nicht; ebenso wenig wie Wissenschaftler, die sich für die Darmflora interessierten. "Man dachte, es handle sich schlicht um einen Haufen Bakterien, den wir für die Verdauung brauchen, der aber ansonsten nichts mit unseren Körperfunktionen zu tun hat", berichtet der Leiter des Lehrstuhls Ernährung und Immunologie.

Seit Mitte der Nullerjahre ist um das Darmmikrobiom ein regelrechter Forschungshype entstanden. Laut Haller ausgelöst durch eine neue Forschungstechnologie. Dieses Hochdurchsatzsequenzierung genannte Verfahren ermöglicht erstmals eine schnelle und präzise Analyse der ungeheure Vielfalt der Darmflora. Mehrere Tausend Bakterienarten, die im menschlichen Verdauungstrakt vorkommen, sind schon identifiziert. Dabei existiert eine Kombination von Mikroorganismen, die alle Menschen gemeinsam haben. Im Detail unterscheidet sich das Mikrobiom aber von Person zu Person.

Darmflora beeinflusst Immunsystem

Schon lange sind Darmbakterien als Verdauungshelfer bekannt. Sie produzieren Enzyme, die anders nicht verwertbare Nahrungsbestandteile – zum Beispiel Ballaststoffe – in Komponenten zerlegen, die der Körper aufnehmen kann. Mittlerweile steht fest: Die Mikroben fungieren unter anderem auch als Trainingspartner für das Immunsystem und sorgen so dafür, dass sich die körpereigene Abwehr richtig entwickelt. Ihre pure Masse verhindert, dass sich Krankheitserreger im Verdauungstrakt ausbreiten. Eine intakte Darmflora ist außerdem wichtig für die Funktion der Darmbarriere. Diese kontrolliert, welche Stoffe vom Körper in den Darm gelangen und umgekehrt.

Einfluss auf Krankheiten?

Die Aufgaben sind derart vielfältig, dass das Mikrobiom inzwischen oft als "Organ im Organ" oder gar als "Superorgan" bezeichnet wird. Außerdem wächst die Liste der Krankheiten stetig an, an denen die Darmbesiedlung in irgendeiner Weise beteiligt sein soll. Ganz oben stehen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Übergewicht (Adipositas), Diabetes, aber auch neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Selbst bei der Entstehung von Störungen wie Depression und Autismus soll die Darmflora zumindest eine Rolle spielen. Einige Forscher spekulieren bereits darüber, wann sich durch Eingriffe ins Mikrobiom Krankheiten heilen lassen.

Der Hype um die Darmbakterien als mögliche Heilmittel verursacht jedoch auch Kritik. "Die Mikrobiom-Forschung benötigt eine gesunde Portion Skepsis", mahnte im Jahr 2014 William Hanage von der Universität Harvard im renommierten Fachmagazin Nature. Dirk Haller sieht das ähnlich wie der Professorenkollege aus den USA. Viele Studien belegten zwar, dass sich bei Patienten mit bestimmten Krankheiten die Mikrobiota von der gesunder Menschen unterscheidet. "Ob diese Veränderungen die Erkrankung tatsächlich verursachen oder nur eine Folge sind, die mit der Krankheitsentstehung gar nichts zu tun hat, lässt sich jedoch nicht sagen", erläutert Haller. "Die Kausalität ist aber entscheidend."

Darmflora passt sich rasch der Ernährung an

Das Mikrobenvolk beeindruckt durch eine enorme Anpassungsfähigkeit. So ändert sich dessen Zusammensetzung binnen 24 Stunden, falls jemand, der sich überwiegend von pflanzlicher Kost ernährt, plötzlich viele tierische Produkte isst. Der Effekt funktioniert auch umgekehrt beim Umschwenken von fleischlastigem Essen auf vegetarisches.

Außerdem produzieren die Bakterien eine Vielzahl von Substanzen, die über die Darmwand in den Blutkreislauf gelangen, darunter auch neurologisch aktive wie die "Glückshormone" Dopamin und Serotonin. Das spricht dafür, dass zwischen Mikrobiom und Gehirn eine Verbindung besteht, die Einfluss auf Verhalten, Gemütslage und damit auch auf psychische Leiden wie Depressionen hat. "Haben könnte", stellt Haller klar. "Wir beginnen erst, das komplexe Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Darmflora zu verstehen", sagt der Münchner Experte, der das Schwerpunktprogramm "Intestinal Microbiota" der Deutschen Forschungsgemeinschaft koordiniert. Gerade bei der Verknüpfung mit Krankheiten und möglichen therapeutischen Eingriffen stünde man ganz am Anfang.

So existieren allenfalls erste Hinweise, dass die typische westliche Ernährungsweise – wenig Ballaststoffe, viel tierisches Fett und Proteine – die Vielfalt der Darmkeime verringern könnte. Wäre das der Fall, könnten sich Bakterien vermehren, die Trimethylamin herstellen. Der Stoff steht im Verdacht, das Risiko einer Arteriosklerose und damit für Herzinfarkt und Schlaganfall zu erhöhen.

Darmmikrobiom bei entzündlichen Darmkrankheiten verändert

Obwohl noch vieles im Dunkeln liegt: Einige spannende Erkenntnisse liefert die Mikrobiom-Forschung bereits. Bei Patienten mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist die Vielfalt der mikrobiellen Mitbewohner eingeschränkt. Experimente mit genetisch veränderten Mäusen, die besonders anfällig für diese chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) sind, zeigten: So lange die Tiere keimfrei blieben, wurden sie trotz der Anfälligkeit nicht krank. Bekamen die Mäuse jedoch mehrere Stämme von Darmbakterien in unausgewogener Zusammensetzung verabreicht, entwickelten sie eine CED. Das weist zumindest im Tiermodell darauf hin, dass das Darmmikrobiom bei der Krankheitsentstehung eine ursächliche Rolle besitzt. Ähnliche Resultate erbrachten Untersuchungen an genmanipulierten Mäusen mit erhöhter Anfälligkeit für eine Erkrankung, die der Multiplen Sklerose gleicht.

Ob sich diese Tierversuchsergebnisse auf den Menschen übertragen lassen, ist allerdings – wie so oft in der Medizin – fraglich. Das gilt auch für Jeffrey Gordons Experimente. Der Biologe von der Washington University School of Medicine verabreichte Mäusen ohne eigene Darmflora entweder den Stuhlgang eines schlanken menschlichen Zwillings oder den eines übergewichtigen. Obwohl alle Tiere das gleiche Futter bekamen, wurden die Mäuse, die das Mikrobiom des übergewichtigen Zwillings erhalten hatten, dick. Ihre Artgenossen mit den Darmbakterien des normalgewichtigen Zwillings blieben hingegen schlank.

Fernziel: Präzise Eingriffe ins Mikrobiom

Mit einer solchen Fäkaltransplantation ist es einem Forscherteam der Universität Amsterdam sogar gelungen, den Blutzuckerstoffwechsel von Menschen mit einem metabolischen Syndrom positiv zu beeinflussen. Sie übertrugen den gereinigten und gefilterten Stuhl gesunder, schlanker Spender in den Verdauungstrakt von neun Männern, die von dieser Vorstufe des Typ-2-Diabetes betroffen waren. Durch die Gabe der Mikrobiota verbesserte sich die beim metabolischen Syndrom eingeschränkte Empfindlichkeit für das blutzuckersenke Hormon Insulin. "Die Fäkaltransplantation könnte ein Schlüssel zur Heilung des Diabetes sein", hoffen die Wissenschaftler.

Allerdings hielt der Effekt nur einige Wochen an. Außerdem birgt der Transfer des gesamten Mikrobioms auch Risiken wie die Gefahr von Infektionen, betont Haller. Auch wenn der Münchner Forscher vor überzogenen Erwartungen warnt, zeigt er sich für die Zukunft optimistisch. "In einigen Jahren wissen wir genauer, welche Veränderungen der Darm-Mikrobiota mit bestimmten Erkrankungen assoziiert sind", sagt er. "Daraus ergeben sich dann Möglichkeiten für sehr viel gezieltere therapeutische Eingriffe als mit einer Fäkaltransplantation."