Gifte aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer können Experten zufolge Langzeitschäden zur Folge haben. "Es kann zu Gedächtnisstörungen oder auch zu Einschränkungen im Sprachvermögen kommen", sagte der Charité-Professor und ehemalige Leiter des Instituts für klinische Pharmakologie und Toxikologe, Ralf Stahlmann am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur.

Außerdem seien psychische Folgen wie Depressionen möglich. "Der Schock durch die Vergiftung und das tagelange Koma gehen nicht spurlos an einem vorbei", so der Experte. "Bei den  Langzeitsymptomen kommt es auf die konkrete Substanz und die Dosierung an", betont Stahlmann.

Vermutlich bei Kreml-Kritiker als Gift verwendet

Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny wurde Charité-Ärzten zufolge vermutlich mit einer Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer vergiftet. Um welchen Stoff es sich handelt, ist noch unklar. Am Dienstag wollte sich die Charité nicht zu dem Fall äußern. Nawalny wird seit Samstag in Berlin behandelt.

Zu der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer zählen eine Reihe von Verbindungen. "Sie werden als Medikamente, etwa in der Alzheimer-Therapie, aber auch als Insektizide oder als chemische Kampfstoffe aus der Gruppe der organischen Phosphorverbindungen verwendet, wie Sarin, Tabun, VX oder Nowitschok", sagt der Professor und klinische Toxikologe Florian Eyer am Universitätsklinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.

Das Mittel Nowitschok geriet 2018 in die Schlagzeilen, als der  russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter Julia damit  vergiftet wurden. Beide überlebten. Moskau hat eine Verantwortung stets  zurückgewiesen.

Beeinträchtigung von Herz, Atmung und Muskulatur

Die  Gifte hemmen im Körper unter anderem das Enzym Acetylcholinesterase,  das den Botenstoff Acetylcholin spaltet und damit abbaut. Dieser  wichtige Neurotransmitter ist unter anderem dafür verantwortlich, einen  elektrischen Impuls vom Nerv zum Muskel zu übertragen. Ist die Funktion  des Enzyms Acetylcholinesterase blockiert, kommt es zur Ansammlung des  Botenstoffes zwischen Nervenzellen und zur Überaktivierung von Teilen im  Nervensystem, die unter anderem die Erholungsfunktionen im Körper  steuern.

"Es kommt zu einer Verlangsamung des Herzschlags, der  Blutdruck sinkt, es wird vermehrt Speichel und Sekret in den Bronchien  gebildet, und man kann unkontrolliert Harn oder Stuhl verlieren." Auch  die Skelett- und Atemmuskulatur könne in ihrer Funktion stark  beeinträchtigt werden, erklärt Eyer. "Schwere Vergiftungen sind oft mit  der Unfähigkeit verbunden, ungestört zu atmen und damit nicht genügend  Sauerstoff über die Lunge in das Blut aufzunehmen", so der Toxikologe.

Bei rascher Behandlung ist Heilung möglich

Dies  könne bei verzögertem Therapiebeginn zu Langzeitfolgen, etwa im Gehirn,  führen oder im schlimmsten Fall tödlich enden. "Wenn die Vergiftung  aber rasch und effektiv behandelt wird, haben die Patienten auch gute  Chancen, ohne relevante Folgeschäden zu überleben", so Eyer. Aber auch  dies sei davon abhängig, welche Substanzklasse zu einer Vergiftung  geführt hat.

"Der Körper kann das Enzym nach einer Vergiftung  wieder neu  herstellen oder aber die Funktion des gehemmten Enzyms wird  reaktiviert  - hierzu gibt es für manche Cholinesterase-Hemmer auch  spezifische  Medikamente. Die vollständige Erholung des Enzyms kann Tage  oder sogar  Wochen benötigen", erläutert Eyer.

Der Patient Alexej  Nawalny wird laut Charité mit dem Gegenmittel  Atropin behandelt. "Der  Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher und  Spätfolgen, insbesondere im  Bereich des Nervensystems, können zum  jetzigen Zeitpunkt nicht  ausgeschlossen werden", teilte die Charité zu  dem Fall am Montag mit.

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