Wenn die Depression auf den Körper schlägt
Bis vor einem halben Jahr war Renate H. das, was man neudeutsch als "Silver Ager" bezeichnet. Eine Frau Ende 50, körperlich fit, mit vielfältigen Interessen, stets am Puls der Zeit und immer für einen Spaß zu haben. Doch dann klagte sie mehr und mehr über Rückenschmerzen. Fragte ihr Mann, ob sie am Wochenende Wandern gehen wollen – ihr großes gemeinsames Hobby –, zuckte sie nur müde mit den Schultern: Eigentlich gerne, aber wenn das Kreuz derart weh tut… Ein Ding der Unmöglichkeit. Auch die Kopfschmerzen, die sie schon früher gelegentlich hatte, waren inzwischen zum ständigen Begleiter geworden. Nachts schlief sie schlecht, tagsüber lag Renate H. meist bedrückt auf dem Sofa, fühlte sich minderwertig und blickte voller Sorgen in die Zukunft. Ist ja kein Wunder, dass mir meine gesundheitlichen Probleme auf die Seele schlagen, dachte sie sich.
Enge Verbindung zwischen Körper und Psyche
Tatsächlich verhielt es sich eher andersherum. Renate H. litt an einer Depression, die sich vor allem durch körperliche Symptome wie Schmerzen bemerkbar macht. Zwischen dem psychischen und dem physischen Befinden besteht eine sehr enge Beziehung. "Die Depression kann eine Vielzahl körperlicher Folgeerscheinungen nach sich ziehen", erläutert Psychiater Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Die krankheitstypische innere Anspannung führe zu einem erhöhten Muskeltonus und begünstige damit Verspannungen, die dann zu Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen führen. Herzstechen, Herzrasen und ein Beklemmungsgefühl in der Brust werden durch den gefühlten Dauerstress ebenfalls befördert. Wenn die Betroffenen auf Grund des Appetitverlusts nur noch wenig essen, entstehen leicht Verdauungsstörungen wie Übelkeit, Blähungen oder Verstopfung. Wenn die Seele belastet ist, geht schnell der Antrieb verloren. In der Folge bewegen sich viele Betroffene nicht mehr so viel wie zuvor. Gerade bei älteren Menschen kommt es dann rasch zum Abbau der Muskulatur, der Gelenk- und Rückenbeschwerden weiter verstärken kann.
Dass sich eine Depression in dieser Art auf den Körper auswirkt, hierfür sei ein zweiter Mechanismus noch entscheidender, sagt Ulrich Hegerl: "Wenn man an einer Depression erkrankt, bekommen schon vorhandene körperliche Beschwerden eine andere Qualität." Die Depression mache jede Empfindung zu einer Missempfindung. Das leichte Zwicken im Knie nach einem heißen Match auf dem Tennisplatz, das allmorgendliche kurze Schwindelgefühl beim Aufstehen, die gelegentlichen Kopfwehattacken bei Fönwetter: Solche vermeintlichen Zipperlein, die bis dato problemlos auszuhalten waren, werden zunehmend als unerträglich empfunden.
Wechselspiel zwischen depressiver Verstimmung und Schmerzen
Wegen dieser Symptome, am häufigsten sind es Schmerzen, suchen die Patienten dann Hilfe in der ärztlichen Praxis. Manche ahnen zwar, dass ihre depressive Verstimmung die Beschwerden zumindest mitverursachen könnte, sprechen dies aber nicht aus, weil es ihnen unangenehm ist. Zumeist stehen die körperlichen Beschwerden im Vordergrund, sodass deren eigentliche Ursache – die Depression – von den Betroffenen übersehen oder höchstens als Begleiterscheinung betrachtet wird. "Ein Grundprinzip der Depression ist, dass sie sich ihr Material sucht", berichtet Hegerl. "Das, was es im Leben des Betroffenen an Negativem gibt, wird dann vergrößert wahrgenommen und ins Zentrum gerückt." Manchmal ist es der Job, manchmal die Beziehung und manchmal eben auch der Körper.
Oft ist der wahre Hintergrund der körperlichen Symptome nur schwer zu erkennen. Körperliche Beschwerden müssen natürlich abgeklärt werden. Aber bei einem aufmerksamen Arzt sollten die Alarmglocken klingeln, wenn sich Hinweise auf Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Suizidgedanken und andere Zeichen einer Depression ergeben. "Depression ist keine Ausschlussdiagnose, also keine Diagnose, die übrig bleibt, wenn die körperliche Untersuchung keine Erklärung für die Beschwerden ergeben hat. Depressionen müssen aktiv erfragt und wie andere schwere Erkrankungen zuverlässig erkannt werden. Der Arzt muss deshalb bei Verdacht gezielt nach den Krankheitszeichen einer Depression fragen", sagt Ulrich Hegerl.
Behandlung mit Antidepressiva und Psychotherapie
Viele Patienten möchten nicht wahrhaben, unter einer Depression zu leiden. Und werfen dem Arzt vor, er nehme ihre Rückenschmerzen, ihre Ohrgeräusche oder ihre Verdauungsprobleme nicht ernst. Arzt oder Ärztin sollten also geduldig erklären, wie die Symptome mit der Depression in Zusammenhang stehen können. Die Behandlung erfolgt individuell, oft mit Antidepressiva und Psychotherapie. Hat die Therapie die erwünschte Wirkung, und die Aussichten sind gut, schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Mit dem dunklen Schleier über der Seele verschwinden häufig auch die körperlichen Beschwerden. Oder sie schrumpfen zumindest wieder auf ein Maß, das sich ohne größere Einschränkungen ertragen lässt.