Senioren Ratgeber

1. Weglaufen: Was hinter dem Verhalten steckt

Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich fremd. Sie wollen nach Hause. An einen Ort, an dem Sie sich auskennen, wo Sie sich sicher und geborgen fühlen. Aber die Person vor Ihnen behauptet, Sie sitzen doch schon auf dem heimischen Sofa. Das kann nicht stimmen. Sie packen Ihre Sachen. Aber der Mensch vor Ihnen will Ihnen wieder den Mantel abnehmen, fängt vielleicht sogar an zu schimpfen!

So fühlt es sich wohl für manche Menschen mit Demenz an, die eine sogenannte "Hinlauftendenz" haben. Bei der Erkrankung kommen Zeitgefühl und Orientierung oft durcheinander. Manche Demenzkranke beharren darauf, irgendwo hinzumüssen. "Oft wollen sie zur Arbeit, die Kinder abholen oder einkaufen und kochen", sagt Angelina Di Virgilio, Einrichtungsleitung im Kompetenzzentrum Demenz in München. "Wenn sie in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen sind, möchten sie auch manchmal den Hof versorgen."

Für die Angehörigen wirkt es wie Weglaufen. Dabei haben die Menschen oft ein klares Ziel vor Augen. Daher sprechen Fachleute heute von "Hinlauftendenz" statt von "Weglauftendenz".

2. Wie man damit umgeht

Korrigieren das Verkehrteste ist, was man tun kann. Verbessern und schimpfen beruhigen nicht, sondern machen unsicher und hilflos, führen zu Stress und Wut. "Führen Sie sich vor Augen: Der Demenzkranke hat immer recht", sagt die Demenz-Expertin Maria Kukuk. Sie empfiehlt Angehörigen die Gesprächstechnik "Validation".

Ein Grundsatz: den Menschen mit Demenz ernst zu nehmen. Er will nicht einfach nur Ärger machen oder verschwinden. Die Gefühle, die er erlebt, sind echt: Er ist auf der Suche, getrieben, agitiert, sehnt sich nach Vertrautheit – oder verhält sich so, wie es tief verwurzelte Routinen einst verlangt haben. "Gehen Sie darauf ein, was die Person sagt, und sprechen über diese Themen", rät Angelina Di Virgilio. Zum Beispiel so:

Beispiel 1:

Eine 80-jährige Dame möchte unbedingt ihre Kinder abholen oder der Familie etwas kochen.
Was dahintersteckt: Sie möchte Verantwortung zeigen und sich kümmern.
Sagen Sie: "Mensch, das mit den Kindern ist eine wichtige Aufgabe. Du warst immer schon ein fürsorglicher Mensch, oder?" Oder: "Das verstehe ich, die Familie hat Hunger! Was soll  es denn heute zu essen geben?"

Beispiel 2:

Ein älterer Herr will rechtzeitig zur Bushaltestelle, um zur Arbeit zu fahren.
Was dahintersteckt: Er möchte dem nachkommen, was jahrelang von ihm erwartet wurde und seinen Alltag geprägt hat.
Sagen Sie: "Hast du dort etwas zu erledigen?" Oder: "Wie ist das denn, als Schlosser?"

Am schwierigsten ist es oft, wenn jemand nach Hause will. Dahinter steckt oft der Wunsch nach Sicherheit und gar nicht unbedingt die frühere Wohnung, die nicht mehr erkannt wird. Antworten könnten Sie darauf zum Beispiel: "Machst du dir Sorgen? Wartet zu Hause jemand auf dich?" Vielleicht erzählt die Person dann von der Familie, dem Mittagessen oder dem Haushalt, woran sich im Gespräch anknüpfen lässt.

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Meine Erfahrung

Ich habe meine demenzkranke Frau lange zu Hause betreut. Schwer machte es ihr Bewegungsdrang. Einmal ging sie am frühen Abend mit dem Hund spazieren und kam nicht wieder. Die Polizei suchte sie mit Streifenwagen und Hubschrauber. Am nächsten Morgen kam ein Anruf: Sie war in einem Schnellstraßentunnel unterwegs gewesen, auf dem schmalen Rettungsweg inmitten des rasenden Verkehrs. Zu ihrer Sicherheit habe ich irgendwann die Wohnungstür abgesperrt. Als es zu Hause nicht mehr ging, habe ich mir von der Alzheimer Gesellschaft eine Liste mit Heimen geben lassen. Wegen ihres Bewegungsdrangs kamen allerdings nur wenige in Frage. Das Amtsgericht hat im Eilverfahren der Übersiedelung zugestimmt. Wir haben inzwischen eine helle, weitläufige Einrichtung gefunden, in der es ihr gut geht.

Walter oberst begleitet seine Frau im Pflegeheim

3. Andere Ursachen abklären und Langeweile vorbeugen

Klären Sie unbedingt mit dem Arzt, ob ein medizinischer Grund dahintersteckt. Auch aus anderen Gründen kann die Person weglaufen:

  • Schmerzen, die die Person nicht äußern lassen
  • Nebenwirkung von Medikamenten, etwa von Neuroleptika oder Antidepressiva
  • Hunger oder Harndrang
  • Langeweile

Versuchen Sie, Ihren Angehörigen mit Demenz tagsüber viel einzubinden, zum Beispiel beim Kochen. Beschäftigungsideen finden Sie hier. Ist jemand gerne unterwegs, begleiten Sie ihn ein Stück oder engagieren Sie einen Besuchsdienst mit Ehrenamtlichen, rät Tagespflege-Leiter Michael Wissussek.

Nach einem kurzen Spaziergang könne man ablenken: "Wollen wir nicht bei mir eine Tasse Kaffee trinken?" Wandert jemand nachts umher, hilft es oft, auf feste Rituale zu setzen, die Siesta zu begrenzen und abends aufregende Aktivitäten zu vermeiden.

4. Wie Technik und Anpassungen in der Wohnung helfen können

Natürlich will jeder seinen Angehörigen beschützen. Doch einsperren geht nicht. Ein Bettgitter anzubringen oder die Zimmertür zu verriegeln – das gilt als freiheitsentziehende Maßnahme. Oft ist das aber gar nicht nötig: Schon kleine Anpassungen in der Wohnung können den Blick der Person und ihr Verhalten lenken.

  • Helle Beleuchtung im Wohnzimmer, dunkle im Flur: So hält sich die Person nicht so gern im Flur auf.
  • Die Tür wird oft nicht mehr als solche erkannt, wenn man sie in der Farbe der Wand streicht, Vorhänge anbringt oder eine Motivtapete aufklebt.
  • Türklinke statt Knauf: "In vielen Fällen hilft das, weil es Menschen mit Demenz oft weniger vertraut ist", sagt Kukuk.
  • Glocken oder Windspiele machen darauf aufmerksam, dass die Person gerade die Wohnung verlässt.
  • Bewegungsmelder oder Klingelmatten geben verlässlich Bescheid.
  • Über kleine Geräte, sogenannte GPS-Tracker, kann man die Person mit Demenz orten und sich ihren Aufenthaltsort anzeigen lassen. Die Geräte gibt es auch in Form einer Uhr, als Kette oder zum Anbringen an die Kleidung. 

Wichtig: Sie dürfen niemanden ohne sein Einverständnis orten. Sprechen Sie mit der betroffenen Person darüber, etwa bei einer Beratungsstelle: "Das ist für den Fall der Fälle, damit ich dich wieder finde." Ist sie nicht mehr in der Lage, das zu verstehen, kann das Amtsgericht die Einwilligung erteilen.

5. Vorbereitung auf den Notfall

Oft ist es sinnvoll, dem Umfeld vorbeugend Bescheid zu geben, dass ein Mensch mit Demenz häufig umherwandert. Gehen Sie bei der Apotheke, dem Bäcker oder den Nachbarn vorbei und bitten um einen Hinweis bei Auffälligkeiten. Lassen Sie ein kleines Foto der Person und die eigene Telefonnummer da. Meistens stoßen Sie dabei auf Verständnis: "Bankangestellte etwa sind wegen der Betrugsfälle gegen ältere Menschen oft für das Thema Demenz sensibilisiert", sagt Expertin Kukuk.

Im Notfall ist es hilfreich, wenn der Mensch mit Demenz ein Kärtchen im Portemonnaie oder in der Jackentasche trägt – oder ein Armband mit Name, Adresse und Telefonnummer. Andere nähen den Hinweis in die Kleidung ein, anstelle des Etiketts. "Aber bitte nicht groß auf den Rücken schreiben", rät Kukuk.

Legen Sie für den Fall der Fälle ein aktuelles Foto und ein Info-Blatt für die Polizei bereit (mit Name, Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe und besonderen Merkmalen).

Meine Erfahrung:

Als meine Frau für 17 Stunden ausgebüxt war und morgens unterkühlt von der Polizei nach Hause gebracht wurde, wusste ich: Wir müssen etwas unternehmen. Eine Türklingelanlage war für uns die Lösung. Bei der Krankenkasse habe ich Druck gemacht und bekam trotz anfänglichen Widerstands rasch die Zusage, dass bezahlt wird. Die Tür selbst habe ich mit einer Büchertapete überklebt: So nimmt meine Frau sie nicht mehr wahr und versucht nicht, wegzulaufen. Bei der Kasse kämpfe ich um eine GPS-Uhr mit Alarmfunktion, mit der ich nach einem Alarm orten könnte, wo sich meine Frau aufhält, wenn sie aus einer gewählten Zone herausläuft. In einem anderen Fall gab es ein entsprechendes Urteil.

Hans-Jürgen Wertens pflegt seine demenzkranke Frau

6. Was im Notfall zu tun ist

Rasch Orte absuchen

  • Haus, Keller, Garten
  • Typische Wege abgehen (z.B. Park, Geschäfte, Friedhof)
  • Nachbarn informieren

Polizei informieren

  • Polizei unter 110 anrufen sagen, dass die Person Demenz hat und orientierungslos ist 
  • Der Polizei ein aktuelles Foto und ein Infoblatt geben: Name, Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe, Kleidung, besondere Merkmale
  • Idealerweise bleibt ein Angehöriger zuhause, falls die Person selbst zurückfindet

Sie haben die Person gefunden? Jetzt richtig reagieren:

  • Von vorne ansprechen, nicht von hinten anfassen – das sorgt für Stress
  • Ruhig bleiben, keine Vorwürfe machen. Die Person kann nichts dafür.
  • Fragen Sie, wo die Person hinwill: Wenn möglich, begleiten Sie sie dorthin
  • Polizei informieren: Suche kann eingestellt werden

Meine Erfahrung:

Meine Frau hat früher immer eine Katze gehabt. Abends ist sie häufig vor die Tür getreten und hat nach dem Tier gerufen. Kam es nicht gleich angelaufen, ist sie manchmal eine Runde um den Block gegangen, um es zu suchen. Später, als sie dement war, fanden solche Spaziergänge auch tagsüber statt. Das ging lange Zeit gut. Doch eines Tages kam sie nicht zurück. Sie war zu anderen Leuten gegangen und hat dort geklingelt. Mehrere Male ist das passiert, wir mussten sogar die Polizei benachrichtigen.

Ich habe daraufhin das Gartentor und auch die Wohnungstür abgeschlossen. So konnte sie nicht mehr herauslaufen. Ihre Unruhe und vermutliche Suche nach ihrer Katze fand erst ein Ende, als sie im fortgeschrittenen Stadium ihrer Demenz war. Außerdem war Margareta auch zweimal im Supermarkt plötzlich verschwunden. Erst hatte ich Angst, dass sie auf den viel befahrenen Parkplatz gelaufen war. Zum Glück nicht. Mit Hilfe von Angestellten habe ich meine Frau jedes Mal vor den Regalen wiedergefunden. Um ein weiteres Weglaufen zu verhindern, habe ich sie bei den nächsten Besuchen des Geschäfts immer an den Riemen ihrer Handtasche festgehalten. Das hat gut geklappt.

Reinhard Bley, pflegte 13 Jahre lang seine demenzkranke Frau

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