Polio-Fall in Gaza: Das Virus, das längst ausgerottet sein sollte
Kann es gelingen, einen breiten Ausbruch von Polio im Gazastreifen zu verhindern? Hunderttausende geflüchtete Menschen leben dort in Lagern. Jetzt gibt es einen bestätigten Polio-Fall: Erkrankt ist ein ungeimpfter, zehn Monate alter Säugling in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens.
In dem Gebiet wurde das Polio-Virus laut Weltgesundheitsorganisation (WHO)[1] bereits im Juli im Abwasser nachgewiesen. Damit ein breiter Krankheitsausbruch ausbleibt, sollen dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF)[2] zufolge Ende August und im September mehr als 640.000 Kinder bis zehn Jahre in zwei Impfrunden vor dem Virus geschützt werden. Dafür müssten aber die Kämpfe eingestellt werden, damit Kinder und ihre Angehörigen sicher zu den Impfeinrichtungen gelangen können.
Was genau ist Polio?
Polio ist eine hochinfektiöse Viruserkrankung, die vor allem Mädchen und Jungen unter fünf Jahre treffen kann. Verursacht wird Polio durch sogenannte Enteroviren – es gibt den Poliovirus Typ 1, Typ 2 und Typ 3.
Polio ist die Kurzform von Poliomyelitis (auf Deutsch: Kinderlähmung). Das griechische Wort setzt sich aus „polios“ (Deutsch: grau) und „myelon“ (Deutsch: Mark) zusammen. Die Endung „itis“ steht für Entzündung. Die Viren befallen vor allem Teile der sogenannten grauen Rückenmarksubstanz. Die Folge davon können dauerhafte Lähmungen sein. Die schweren Lähmungserscheinungen beginnen häufig an den Beinen, die Folge: Betroffene können nicht mehr laufen. Die Lähmungen können aber auch an anderen Körperregionen auftreten. „Auch das Halsmark kann betroffen sein“, sagt Prof. Hans-Iko Huppertz, Vorsitzender der beim RKI angesiedelten Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland. Weiten sich die Lähmungserscheinungen auf die Atemmuskulatur aus, besteht für Betroffene Lebensgefahr.
Wie viele Menschen in Gaza sind betroffen?
Bislang ist ein Fall von Polio in Gaza bestätigt; bei drei Kindern besteht nach WHO-Angaben[1] der Verdacht auf akute Lähmungssymptome. „Man weiß, dass ein Fall von akuter schlaffer Lähmung durch Polio Hinweis auf 99 weitere Fälle der Infektion ist, die nicht erkennbar sind“, erklärt Huppertz. Daher komme es jetzt darauf an, so schnell wie möglich den Weg für Impfungen freizumachen. Denn Impfungen seien der beste Schutz gegen Polio.
Wie breitet sich Polio aus?
Übertragen werden die Viren vor allem über verunreinigtes Trinkwasser oder Lebensmittel. In der Fachwelt ist von einer fäkal-oralen Übertragung [3]die Rede. Die Viren vermehren sich im Darm und werden mit dem Stuhlgang ausgeschieden. „Schon durch wenige Viren kann es zu einer Infektion kommen“, sagt Huppertz. Schmierinfektionen, bei denen das Virus durch Kontakt mit Ausscheidungen über die Hände in den Mund gelangt, sind ebenfalls möglich.
Kurz nach der Infektion ist auch eine Ansteckung über Tröpfchen – also wie bei einer Erkältung – möglich.[3]
Welche Symptome verursacht Polio?
„In mehr als 95 Prozent der Infektionen zeigen sich keinerlei Krankheitszeichen“, sagt Dr. Hans-Jürgen Laws, Kinderarzt mit Schwerpunkt Immunologie und Impfungen am Universitätsklinikum Düsseldorf. Allerdings sind auch solche Personen für andere ansteckend. Treten Symptome auf, sind verschiedene Krankheitsverläufe möglich.
- Abortive Poliomyelitis: Bei einem Teil der Erkrankten (vier bis acht Prozent der Betroffenen[3]) zeigen sich unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Fieber, Halsschmerzen oder Übelkeit. Nach rund drei Tagen sind die Beschwerden abgeklungen, Schäden bleiben nicht zurück.
- Nicht paralytische Poliomyelitis: „Betroffen sind von der Krankheitsform ein bis zwei Prozent der Infizierten“, sagt Laws. Bei dieser Variante befallen die Erreger auch das Nervensystem. Die Beschwerden sind laut Laws zunächst die gleichen wie bei der abortiven Poliomyelitis. Nach rund einer Woche zeigt sich bei Infizierten eine Hirnhautentzündung. Sie kann unter anderem mit Fieber, Kopfschmerzen, Muskelkrämpfen und Nackensteife einhergehen. Die Erkrankung heilt in der Regel komplett aus. Es kommt zu keinen Lähmungserscheinungen.
- Paralytische Poliomyelitis: Zu einem Befall des Nervensystems kommt es laut RKI bei 0,1 bis 1 Prozent[3] aller infizierten Personen. In dem Fall treten Lähmungserscheinungen auf, die sich nur teilweise wieder zurückbilden. „Die Zerstörung der Nervenzellen ist unwiderruflich, die paralytische Poliomyelitis ist also nicht heilbar“, sagt Huppertz.
Wie wird Polio behandelt?
Eine spezielle Therapie bei der abortiven Poliomyelitis und der nicht paralytischen Poliomyelitis gibt es dem Robert Koch-Instituts (RKI) zufolge[3] nicht. Die Behandlung besteht aus Bettruhe und gegebenenfalls Schmerzmitteln und fiebersenkenden Mitteln; bei Lähmungen auch krankengymnastische Übrungen. Es gibt aber eine Prophylaxe: Wenn man zuvor vollständig geimpft worden ist, kann man sich zwar eventuell noch infizieren, es tritt aber keine Lähmung ein. „Man ist also vor den schlimmen Folgen der Infektion geschützt“, so Huppertz.
Sollte Polio nicht weltweit längst ausgerottet sein?
Die WHO hatte sich bereits im Mai 1988 die weltweite Eradikation – die völlige Auslöschung eines Krankheitskeimes – des Poliovirus auf die Fahnen geschrieben. Dieses Ziel sollte über Impfkampagnen erreicht werden.
Im Jahr 1994 erklärte die WHO die Vereinigten Staaten für poliofrei. Es folgten der Westpazifik im Jahr 2000, Europa im Jahr 2002, Südostasien im Jahr 2014 und Afrika 2020. Noch nicht als poliofrei gilt nach Angaben des RKI[4] die Region Naher Osten.
In einigen Ländern Afrikas und Asiens mit niedrigem Hygienestandard und hoher Bevölkerungsdichte kann sich das Polio-Virus nach wie vor breit machen. „Dazu zählt vor allem Afghanistan, Nigeria und Pakistan“, sagt Experte Laws.
Was bedeutet der Polio-Ausbruch in Gaza für uns in Europa?
„Wahrscheinlich bedeutet der Polio-Ausbruch für die Menschen in Europa gar nichts“, sagt Huppertz. Denn Europa gilt als poliofrei. Wer in den Gazastreifen fährt – zum Beispiel als Helferin – sollte die Polio-Impfung auffrischen, sofern die letzte länger als zehn Jahre zurückliegt.
Quellen:
- [1] World Health Organization: Humanitarian pauses vital for critical polio vaccination campaign in the Gaza Strip. Online: https://www.who.int/... (Abgerufen am 22.08.2024)
- [2] unicef – für jedes Kind: Gaza: WHO und UNICEF fordern Waffenpause für Polio-Impfungen. Online: https://www.unicef.de/... (Abgerufen am 22.08.2024)
- [3] Kinder- & Jugendärzte im Netz; Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen: Kinderlähmung (Poliomyelitis). Online: https://www.kinderaerzte-im-netz.de/... (Abgerufen am 22.08.2024)
- [4] Robert Koch Institut: Nationale Kommission für die Polioeradikation in Deutschland. Online: https://www.rki.de/... (Abgerufen am 22.08.2024)
- Robert Koch Institut: Poliomyelitis, RKI-Ratgeber . Online: https://www.rki.de/... (Abgerufen am 22.08.2024)