Über 300 Beratungsanfragen hatte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes seit Beginn der Corona-Krise bis Mitte Juni in Bezug auf Diskriminierung im Zusammenhang mit Corona registriert – es ging um Rassismus bis hin zu körperlichen Übergriffen. Die Zahl zeigt deutlich: Die Pandemie hat Folgen, die weit über die eigentliche Erkrankung hinausgehen.
Neben den Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle belegen zahlreiche Me-dienberichte, dass die Angst vor dem Virus dramatische Effekte haben kann. Bereits im März twitterte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus: "Es ist erschreckend, neue Berichte über Menschen zu sehen, die aufgrund ihrer Rasse, ethnischen Zugehörigkeit oder angeblichen Verbindung zu #COVID19 ins Visier genommen werden." Er bezog sich damals auf einen Medienbeitrag über einen Mann aus Singapur, der in London angegriffen worden war.

Beleidigungen, Attacken und zerkratzte Autos

Deutsche Medien berichteten über ähnliche Vorfälle: über Menschen aus dem Kreis Gütersloh, deren Autos nach dem Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies zerkratzt worden waren. Oder über Personen mit asiatischem Aussehen, die öffentlich beleidigt, angegriffen oder ausgegrenzt wurden. Einige dieser Erfahrungen von Betroffenen finden sich unter dem Hashtag #ichbinkeinvirus im Netz.

Doch warum reagieren Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 anderen gegenüber so feindlich und stigmatisieren bestimmte Gruppen? In einem von Unicef, der WHO und der Hilfsorganisation IFRC herausgegebenen Leitfaden zur sozialen Stigmatisierung im Zusammenhang mit Covid-19 werden drei mögliche Ursachen angeführt: Die Neuartigkeit der Krankheit und die damit verbundene Unsicherheit, die Angst vor dem Unbekannten und die Leichtigkeit diese Angst mit "anderen" zu verknüpfen. "Es ist verständlich, dass in der Öffentlichkeit Verwirrung, Angst und Furcht herrschen", heißt es im Leitfaden. "Leider schüren diese Faktoren auch verletzende Stereotype."

Die Suche nach einfachen Erklärungen gegen die Angst

Das bestätigt auch Dr. Michael Depner, Psychiater und Psychotherapeut aus Wuppertal: Die Wirklichkeit ist so kompliziert, dass wir am liebsten einfache Lösungen haben, die unsere Ängste mildern." Ein klassisches Beispiel für Schubladendenken:  "Wir kategori-sieren", sagt Florian Kaiser, Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie in Mag-deburg. "Dazu braucht man ein Merkmal – zum Beispiel ob von jemandem scheinbar ein höheres Ansteckungsrisiko ausgeht oder nicht." Allerdings: "Wir neigen dann dazu, dieses eine Merkmal höher zu bewerten und außerdem, keinen Unterschied mehr zu machen."

Die Folgen sind bekannt: Plötzlich sieht man in allen Menschen mit asiatischem Aussehen eine potenzielle Gefahr, weil das Virus zunächst in China aufgetreten ist. Oder man stigmatisiert Personen aus dem Landkreis Gütersloh, weil sich dort ein Hotspot entwickelte. "Die Kategorisierung hilft uns dabei, einfache Faustregeln aufzustellen, wie wir uns zu verhalten haben. Im Zusammenhang mit Krankheiten verhalten wir uns dann so, dass wir das Risiko krank zu werden, vermeiden wollen."

Der Drang, etwas gegen die Verunsicherung zu unternehmen

Was in anderen Situationen Sinn machen kann, führte in den genannten Fällen zu irrationalem Verhalten – sogar zu Straftaten. Dabei dürfte jedem klar sein, dass weder Anfeindungen noch Straftaten jeglicher Art vor einer viralen Ansteckung schützen. Wie kommt es also zu diesem Verhalten? "Es könnte darum gehen, den anderen zu zeigen, ihr seid hier unerwünscht", meint Depner. Und noch etwas ganz anderes könnte eine Rolle spielen: "Der Täter bekommt vielleicht das Gefühl: Ich bin der Situation nicht tatenlos ausgesetzt, sondern ich tue etwas." Dazu komme oft der Frust über die eigene Situation, sagt Kaiser: "Je größer man den Schaden für sich selbst empfindet, desto eher sucht man einen Schuldigen."

Stigmatisierung und Diskriminierung in Verbindung mit Krankheiten sind nicht neu. Im Zusammenhang mit HIV wurden schwule Männer oft zum Sündenböcke gemacht. Menschen mit auffälligen Hautveränderungen werden angestarrt und auch Personen mit psychischen Erkrankungen erleben häufig Ausgrenzungen. "Wenn Menschen wie Aussätzige behandelt werden, hat das viel mit Nichtwissen zu tun", meint Soziologie-Professorin Annette Treibel-Illian von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. "Vielleicht sind wir Menschen auch damit überfordert, uns ständig und umfassend zu informieren."

Verheimlichte Infektionen wegen befürchteter Ausgrenzung

Eine Entschuldigung ist das nicht. Zumal die Folgen oft weitreichend sind. Fühlen sich etwa Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, stigmatisiert, versuchen sie ihre Erkrankung womöglich aus Scham zu verheimlichen, holen sich keine medizinische Hilfe oder gehen nicht in Quarantäne. Das wiederum trägt dazu bei, dass man die Pandemie schlechter unter Kontrolle bekommt und das Virus sich weiter ausbreitet.

Nur was kann jeder Einzelne tun? Zum Beispiel auf die eigene Sprache achten. Im Leitfaden der WHO finden sich einige Hinweise, wie zum Beispiel das Virus nicht mit Orten oder ethnischen Zugehörigkeiten zu verbinden. Statt "Wuhan-Virus" oder "asiatisches Virus" solle man bei der offiziellen Bezeichnung "Covid-19" bleiben. Statt "Covid-19-Fälle" oder "Opfer", solle "Menschen, die Covid-19 haben" sagen. Außerdem mahnen die Organisationen davor, unbestätigte Gerüchte zu wiederholen und Angst verbreitende Begriffe wie "Seuche" und "Apokalypse" zu nutzen.

Verallgemeinerungen hinterfragen

Sozialpsychologe Kaiser rät, sich bewusst zu machen, dass man dazu neigt, Dinge zu vereinfachen. Das geht nur über Reflexion und ist zunächst nicht einfach. Dennoch sollte man sich immer überlegen: Tue ich hier jemanden Unrecht? Trifft man auf Menschen, die zum Verallgemeinern neigen und Einzelfälle auf ganze Personengruppen übertragen, könne man die naive Frage stellen: Wirklich alle? "Damit kann man das statistische Phänomen in den Vordergrund rücken", so Kaiser. "Es geht darum, die Leute zum Nachdenken zu bringen, was sie tun und warum sie es tun." Ein Allheilmittel sei dieser Gedankenanstoß jedoch nicht: "Denjenigen, die es nicht hören wollen, hilft man mit Informationen allerdings nicht."