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Wir fragten Sigrid Diekow, Life- und Business-Coach und Resilienz-Trainerin:

Frau Diekow, was hilft Menschen beim Durchhalten?

Dass sie sich genau davon verabschieden: Vom Gedanken, durchhalten zu müssen. In der Corona-Krise war das bislang jedenfalls wenig erfolgsversprechend. Wer sich auf Durchhalteparolen eingelassen hatte, wurde wieder und wieder enttäuscht. Durchhalten wollen heißt hoffen. Die Hoffnung hangelt sich von Termin zu Termin. Zu Tag X, an dem die Geschäfte und Schulen wieder aufmachen sollen, an dem man sich wieder frei und unbeschwert bewegen kann. Wenn Tag X dann aber nicht eintritt, macht das was mit uns. Bei vielen, die zuletzt zu mir ins Coaching gekommen sind, sind Vertrauen und Sicherheit abhandengekommen. Wo ist mein Anker, meine Zuversicht, wenn ich mich auf nichts mehr verlassen kann?

Wenn Durchhalten nicht hilft, was hilft dann?

Improvisationsvermögen. Ich schaue auf den Tag. Bewege mich Schritt für Schritt voran. Jeden Dienstag ist man vor dem Lockdown ins Schwimmbad gegangen und genau darauf fiebert man jetzt wieder hin, damit motiviert man sich? Von solchen weiter gefassten Zielen würde ich aktuell eher abraten, denn wer weiß, was noch alles kommt und ob wir morgen vielleicht mit einer – ich fantasiere jetzt mal - kaukasischen Mutation des Virus zu tun haben? Wer bereit ist, zu improvisieren und sich beispielsweise Gedanken macht, was ihm statt Schwimmbadbesuch noch guttun könnte, der ist gewappnet.

Wo Menschen sich im ersten Lockdown plötzlich im Home-Office wiederfanden, wo Alleinlebende ohne Sozialkontakte und Eltern ohne Entlastung bei der Kinderbetreuung waren, sollte eine gute Tagesstrukturierung helfen. Routine sei das A und O. Sie sprechen nun vom Improvisieren. Wie passt das zusammen?

Resilienz-Trainerin Sigrid Diekow

Resilienz-Trainerin Sigrid Diekow

Tatsächlich war das Finden neuer, definierter Abläufe für viele Menschen zu Beginn der Corona-Krise wichtig. Ich hatte mit Berufstätigen zu tun, die im Home-Office von einem Zoom-Call zum nächsten gesprungen sind, ohne Pause. Wo früher der Plausch in der Kaffeeküche oder der Gang zur Kantine durchatmen ließ, fehlten solche entlastenden Elemente auf einmal. Ich habe Menschen begleitet, die sich dann ganz bewusst Auszeiten verordnet haben. Die unter Tags Gymnastik machten, joggen gingen, die mittags nicht weiter zu Fertiggerichten griffen, sondern begannen, gut zu kochen. Oder nehmen wir den Familienvater, der jetzt am Klapptisch im Schlafzimmer arbeitet und kaum noch Abstand zwischen Arbeit und Privatem hat. Das Schaffen von Räumen, in denen nur das eine oder nur das andere dran ist, kann vor Überlastung schützen, vielleicht einen Burnout vermeiden. Routine entlastet, keine Frage. Zu viel Routine allerdings mag unsere Psyche auf Dauer auch wieder nicht. Wer will schon jeden Tag immer nur Butterbrote essen?

Können Sie das erklären: Wieso schadet zu viel Routine?

Wo Routine einerseits entlasten und Sicherheit geben kann, vermag sie andererseits nicht, zu inspirieren und Freude entstehen zu lassen. Freude entsteht, wenn wir unser Gehirn mit Abwechslung füttern. Wer immer das gleiche macht, tagein, tagaus, im Job wie nach Feierabend, fühlt sich matt und antriebslos. Gerade in Lockdown-Zeiten ist das ein Problem. Die Freizeitmöglichkeiten sind derzeit ja stark eingeschränkt. Viele kennen das: Was auch immer man tut, um sich zu entspannen - sei es der abendliche Spielfilm, das Buch oder auch der Spaziergang um den Block, es will sich einfach keine richtige Erholung einstellen. Wo die Tage von wenig Abwechslung bestimmt sind, werden wir im Denken und Handeln enger. Die geistige und körperliche Widerstandsfähigkeit sinkt.

Viele haben in den vergangenen Monaten neue Gewohnheiten entwickelt, die ihnen durch die Tage und Wochen helfen. Davon möchten die meisten sich wohl eher ungern verabschieden…

Soweit muss man oft auch gar nicht gehen. Es geht eher darum, innerhalb der Strukturen flexibler zu werden. Wenn ich gelernt habe, dass es mir guttut, jeden Tag in die Natur zu gehen, behalte ich das natürlich bei. Aber ich muss ja nicht jeden Tag das gleiche Stückchen Wald ablaufen. Auch kann ich beim Tempo variieren, mal schneller oder mal langsamer laufen oder ich kann meine Aufmerksamkeit während eines bestimmten Abschnitts stärker auf die Natur richten. Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung für Improvisationsvermögen. Wenn ich neue Wege einschlage, sind meine Sinne wacher. Ich sehe, höre, rieche dann viel intensiver.

Oder nehmen wir ruhig nochmal das Beispiel Kochen, das betrifft wegen der geschlossenen Gastronomie und Kantinen ja gerade viele. Ich kann das Kochen zur Routine werden lassen, ich kann aber noch weitergehen und innerhalb dieser Routine experimentieren. Mit frischen Kräutern etwa, einer anderen Garmethode oder vielleicht möchte ich ja einmal die vegane Küche ausprobieren? Ich setze dann zahlreiche Veränderungen in Gang. Schon beim Einkaufen passiere ich die Regale anders als sonst, entdecke Unbekanntes, bekomme neue Impulse. Fürs Zubereiten und für den Verzehr gilt ähnliches. Mein Gehirn ist bei allen Abläufen mehr gefordert als sonst. Kochen ist insofern ein gutes Beispiel, als dass die Sinne hier auf vielfältige Weise berührt werden. Man riecht, man schmeckt und das Auge isst natürlich auch mit. Je breiter und vielfältiger wir angesprochen sind, desto besser. Zunächst mag das widersprüchlich klingen: Man ist gefordert und kann sich gleichzeitig entspannen. Viele kennen das vom Gang ins Konzert, vom Museumsbesuch oder wenn sie eine Städtereise machen. Wobei es individuell natürlich verschieden ist, wie Menschen am besten entspannen und auftanken.

Viele verbringen seit Corona deutlich mehr Zeit vor dem Bildschirm als vorher. Auch das Netz verspricht Ablenkung und Entspannung…

Vorsicht, der Schein trügt! Zunächst: Ähnlich wie im echten Leben bewegen wir uns auch virtuell viel zu oft auf immer gleichen Wegen und Plattformen, bekommen also wenige geistigen Impulse. Dazu kommt: Auch wenn wir uns online zunächst gut unterhalten fühlen, so passiert auf der körperlichen Ebene genau das Gegenteil von Entspannung. Neulich erst: Ich wollte nur schnell ein Paar Stiefel bestellen, eigentlich freute ich mich darauf. Am Ende hatte ich anderthalb Stunden in diesem Online-Shop verbracht und nichts gefunden, so erschlagen war ich von all den Angeboten und Möglichkeit für weitere Klicks. Neurologische Studien zeigen, welchen Stress moderne Medien über immer neue Erregungszustände in unseren Gehirnen auslösen. Diesen spüren wir jedoch oft erst, wenn wir wieder offline sind.

Sie haben eben übers Draußen-Sein gesprochen und übers Kochen. Wo tanken Menschen noch auf?

Grundsätzlich sind alle realen und geistigen Orts- und Themenwechsel dazu geeignet, unser Improvisationsvermögen zu stärken und damit unsere Kraftspeicher aufzufüllen. Schon der Umweg auf dem Weg zur Arbeit wirkt. Ich komme dann vielleicht an einem Bäcker vorbei, rieche die frischen Croissants, den Kaffee. Eindrücke, die ich sonst nicht habe, die aber dabei helfen, innerlich beweglich zu bleiben und neugierig, auf das Leben. Machen wir uns klar, dass wir uns hier im Moment ein Stück weit im Spannungsfeld befinden. Wir sind alle zusammen aufgefordert, uns einzuschränken. Gleichzeitig aber brauchen wir Kreativität und Innovationskraft, um die Krise zu meistern. Wir müssen aufpassen, hier einen guten Ausgleich hinzubekommen. Zuweilen ist das eine Gratwanderung. Eine ehrliche Bestandsanalyse kann zunächst helfen.

Sie meinen, dass man die eigene Situation einmal genauer beleuchtet: Wie geht es mir, nach einem knappen Jahr Corona?

Genau. Was gibt mir Halt, was stützt mich? Was bremst, was engt ein? Und wo entdecke ich Impulse, die beflügeln? Nochmal vielleicht zu den Durchhalteparolen an dieser Stelle: Die sind in diesem Zusammenhang kontraproduktiv. Wo wir genauer hinschauen und konkret werden könnten, beschwichtigen wir: Wird schon alles wieder. Dabei bleiben wir nicht nur schwammig, wir machen uns auch was vor. Wir haben nun bald ein Jahr Erfahrung mit dem Corona-Virus. Wir wissen, dass nicht alles wieder so wird, wie es war. Schauen wir in die Geschichtsbücher, dann sehen wir, dass Pandemien stets einen gesellschaftlichen Wandel nach sich gezogen haben. Wir sind bereits mitten drin in diesem Wandel, können jeden Tag Neues und Wichtiges lernen. Wie gesagt: Wenn wir bereit sind, ehrlich mit uns zu sein und die Zukunft hier und heute beginnen zu lassen.

Wenn ich Bilanz ziehe und mir eingestehe, dass ich ausgepowert bin oder deprimiert oder antriebslos – wie mache ich dann weiter?

Wenn ich analysiert habe, was mir Kraft raubt, kann ich mir vornehmen, diese Krafträuber aus meinem Alltag zu verbannen. Worauf möchte ich künftig keine Energien mehr verwenden? Ein Klassiker in der Corona-Krise sind die Nachrichten: Möchte ich wirklich mehrmals täglich ganz aktuell über alles informiert sein? Hilft mir das oder zieht mich das eher runter? Oder nehmen wir die aufreibenden Corona-Diskussionen: Da entstehen aus unterschiedlichen Überzeugungen Streitigkeiten, die oft deutlich über das hinausgehen, was die Leute wirklich betrifft und bewegt. Wozu der Streit, fragt es sich. Lohnt sich das? Man könnte stattdessen schließlich auch einfach diskutieren. Oft staunen die Leute, wie wohltuend es ist, Krafträuber auszumachen und von ihnen loszulassen.

Wichtig ist allerdings, dass man nicht nur in den Fokus nimmt, was Kraft raubt. Sondern auch, was Kraft gibt, sonst fällt man schnell in alte Muster zurück. Wenn ich mich bislang mit Aktionismus durch die Krise navigiert habe und sehe, dass mir Momente des Innehaltens fehlen, in denen gern die besten Ideen kommen, sollte ich solche Momente möglich machen. Drei Fragen sind jetzt entscheidend: Was ist gut gelaufen bislang in der Corona Pandemie? Was nicht? Und was lerne ich daraus? Jeden Abend frustriert ins Bett zu gehen und sich zu sagen: Dieser Tag war schon wieder Mist, das ist jedenfalls keine Lösung.

Sondern?

Veränderung erfordert einen konkreten ersten Schritt. K. I. S. S. lautet das Prinzip: Keep it small and simpel. Starten Sie mit einer einzigen Sache, sage ich meinen Klienten. Machen Sie nicht alles auf einmal. Die eine Sache sollte sich leicht anfühlen, einfach sein und Spaß machen. Wenn ich mir mehr Harmonie in der Familie wünsche, kann ich jede Kleinigkeit, die schief läuft, zum Anlass nehmen, um mich bestätigt zu fühlen: Alles Mist bei uns. Oder ich kann am Abend ein lustiges Gesellschaftsspiel vorschlagen. Das macht einen riesen Unterschied! Natürlich ist der Familienfrieden nicht mit einem einzigen Spieleabend gerettet. Veränderungsmechanismen müssen trainiert werden wie ein Muskel. Wenn im Verlauf des Coachings der Begriff Dankbarkeit fällt, ist das ein gutes Zeichen.

In wie fern ist Dankbarkeit ein Indikator für gutes Krisen-Management?

Weil Leute, die dankbar sind, die Negativ-Brille abgelegt haben, die sie in Krisen so gerne aufsetzen. Sie erkennen wieder mehr Nuancen, sehen: Ich habe Möglichkeiten. Auch dann, wenn es von außen betrachtet Grund für Verzagtheit gäbe. Ich kann dankbar sein für gesunde Kinder, für Kinder, die im Home-Schooling ihre Hausaufgaben machen – das ist das eine. Ich kann aber auch dankbar sein für mein Verständnis den Kindern gegenüber, wenn es mal nicht so läuft. Was in Anbetracht der aktuellen Situation ja nur verständlich ist.

Abwarten, bis es wieder besser wird? Nochmal: Für mich ist das aktuell ein schlechter Ratgeber. Das Leben steht nicht still, es will gelebt werden, hier und jetzt, trotz allem. Wenn anstelle eines oberflächlich aufgesetzten Durchhaltevermögens Authentizität und innere Beweglichkeit treten, sind wir auf dem richtigen Weg. Durchweg düstere Ist-Szenarien sind letztlich schließlich genauso einseitig wie das Bild einer rosa gezeichneten Zukunft. Ich glaube, wenn wir uns das bewusst machen, haben wir das Zeug, um kreativ und kraftvoll durch die kommenden Monate zu kommen.