Psychologe: Die Folgen des Abstand-Haltens

Professor Rolf van Dick über Social Distancing: "Corona kann krank machen, auch wenn man gar nicht mit dem Virus infiziert ist."
© Moritz Sirowatka
Herr van Dick, Harvard-Forscher prognostizierten unlängst, ein gewisses Maß an sozialer Distanzierung müsste möglicherweise bis 2022 gewahrt bleiben. Was bedeutet das für unser Zusammenleben, wenn wir uns nicht mehr beziehungsweise nur noch eingeschränkt nah sein können?
Die Prognose der Harvard Forscher erschreckt mich, allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass man so etwas seriös vorhersagen kann. Sicher ist: Solange weder ein Impfstoff noch Medikamente gegen COVID-19 in Sicht sind, müssen wir weiter mit der sozialen Distanzierung zurechtkommen. Wie wichtig soziales Miteinander ist, ist gut untersucht. In den fünfziger Jahren hat man zum Beispiel gesehen, dass Kinder nach längeren Krankenhausaufenthalten durch den fehlenden Kontakt zu Freunden und Familien sowohl in ihrer kognitiven wie sozialen Entwicklung eingeschränkt waren.
Ein Kollege aus Kasachstan hat kürzlich die Selbstmordrate der vergangenen Wochen mit dem Zeitpunkt der Suizide vom Vorjahr verglichen. In diesem Jahr waren es über 800. 2019, im Vergleichszeitraum, waren es nur 14. Auch in Deutschland gibt es erste Anzeichen für eine Zunahme an Selbsttötungen. Natürlich können da finanzielle und wirtschaftliche Aspekte mit reinspielen. Nach allem, was wir wissen, ist der fehlende zwischenmenschliche Kontakt aber ein sehr wichtiger Punkt. Corona kann krank machen, auch wenn man gar nicht mit dem Virus infiziert ist.
Es schadet also der Gesundheit, wenn man seine Freunde nicht sieht?
Nicht nur die, auch Arbeitskollegen, Nachbarn, und Freizeitpartner spielen in das hinein, was wir soziale Interaktion nennen. Der eins-zu-eins-Kontakt, wie wir ihn in Partnerschaften oder Familien haben, zählt hingegen nicht dazu. Der ist unter den Lockdown-Bedingungen ja weitestgehend erhalten geblieben.
Im Rahmen einer großen internationaler Studie haben sie untersucht, unter welchen Umständen die Belastungen besonders groß sind. Was sind ihre Erkenntnisse?
Wir haben mit Kollegen aus über zehn Ländern zusammengearbeitet und zwei Befragungen im Abstand von vier Wochen durchgeführt - die erste zu Beginn des Lockdowns. Eine Sache, die wir sehen konnten, war, dass Familie ein Stück weit ein Puffer zu sein scheint. Wer sich hier stark identifiziert, scheint insgesamt vergleichsweise weniger Stress zu haben. Aber auch die Identifikation mit dem eigenen Land im Sinne von ‚wir schaffen das als Deutsche, Griechen, Österreicher und so weiter‘ scheint einen positiven Effekt zu haben und etwa Ängsten entgegen zu wirken. Weiterhin haben wir die Identifikation auf noch größerer Ebene abgefragt. Wer sich als Teil eines globalen "Wie schaffen das" wahrgenommen hatte und davon überzeugt war, die Menschheit würde weltweit "in einem Boot sitzen", der war weniger belastet. Von kollektiver Selbstwirksamkeit sprechen wir in diesem Zusammenhang.
Was wissen Sie über das Verhalten der Menschen zum Zeitpunkt des Lockdowns und danach?
Wir sprechen nun von den deutschen Ergebnissen der Studie, hier
lagen wir im Vergleich zu den anderen Ländern zeitlich etwas vorn. Insgesamt haben wir Daten von tausend Befragten erfasst. Zum ersten Zeitpunkt der Befragung hielten die meisten sich stark an die Regeln. Die Abstände wurden eingehalten, öffentliche Plätze gemieden. Vier Wochen später, mit Beginn der Lockerungen, wurden die Regeln weniger eingehalten – bei gleichzeitig deutlich mehr Sozialkontakten. Wir wissen, dass Verhaltensänderungen, die von Autoritäten kommuniziert werden, Verunsicherung auslösen und dann oft nur kurzfristig wirken – wenn überhaupt. Siehe die Einführung der Gurtpflicht im Auto damals in den siebziger Jahren. Ich weiß noch gut, wie ich als Zehnjähriger gehört habe, wie mein Onkel meinte: Und wenn das Auto sich überschlägt kriegen sie mich nicht mehr raus. Der Gurt blieb unangerührt. Erst als Bußgelder eingeführt wurden, haben die Leute sich angeschnallt – etwas, was für uns heute ganz normal ist. Die Maßnahme ist sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen.
Wie ist das mit Corona: Geht uns das Abstand-Halten nicht auch ein Stück weit in Fleisch und Blut über?
Davon ist nicht auszugehen, für so etwas braucht es viel längere Zeiträume. Zunächst kommen uns die neuen Verhaltensweisen doch erst mal komisch vor. Das gründliche Hände waschen zum Beispiel, das man nach WHO Standard ja richtiggehend einüben musste. Denken wir, wie es bei Zahnarztbesuchen ist: Kurz vor dem Termin putzen wir die Zähne sehr gründlich. Danach zunächst oft auch noch. Aber dann sind wir relativ schnell wieder bei "back to normal". Nochmal: Die Zeit des Lockdowns war zu kurz für Verhaltensänderungen, die dann dauerhaft und automatisiert ablaufen.
Social Distancing wird also auch in den kommenden Monaten bewusst geschehen müssen?
Davon gehe ich aus, ja. Wenn wir uns jetzt nach und nach wieder treffen, bemerken wir ja diese Unsicherheit. Soll man sich die Hand geben? Umarmt man sich? Gern wird das dann mit einem Lächeln überspielt. Vielleicht werden wir die Verlegenheit in der kommenden Zeit ein Stück weit ablegen. Eine gewisse bewusst gelebte Vorsicht aber wird –hoffentlich – bleiben.
Gibt es eigentlich auch Menschen, die den eingeschränkten Kontakt für sich als eher positiv erleben?
Es mag sein, dass der ein oder andere unter dem Lockdown zunächst weniger Freizeitstress wahrgenommen hat. Introvertierte Persönlichkeiten sagen vielleicht: Ich brauche die Identifikation mit Gruppen gar nicht so. Tatsächlich aber bewegen wir uns oft in Gruppen, die wir vielleicht gar nicht als solche erkennen. Auch, wenn ich im beruflichen Kontext nicht im Mittelpunkt stehe und ungern das Wort ergreife, kann ich mich hier doch gestützt und getragen fühlen. Ich muss nicht hundert Freunde haben, zwei oder drei, mit denen ich qualitativ hochwertig agiere, tun es. Ich kann mir vorstellen, dass der eine oder andere durch Corona in diesen Dingen bewusster geworden ist. Dass es Menschen gibt, denen es in der Isolation dauerhaft wirklich besser geht, bezweifle ich. Im Rahmen einer Metaanalyse mit über 6000 Teilnehmern haben wir gefunden: Wer sich mit Gruppen am Arbeitsplatz identifiziert, ist körperlich und psychisch weniger krank.
In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders gab es Umstellungen von Face-to-Face auf digital. Sehen Sie hier eher Chancen? Oder Risiken?
Hierzu haben wir aktuell eine Befragung laufen. Interessant ist, dass die Vorteile der Telearbeit nach der Krise lange nicht mehr so positiv gesehen werden wie vorher. Da werden auf der einen Seite Kosten und Aufwände für Fahrtwege reduziert. Und es tut gut, einen Arbeitgeber zu erleben, der einem Vertrauen entgegenbringt: Du kannst den Ort und vielleicht ein Stück weit auch die Zeitspanne deiner Tätigkeit frei wählen. Gleichzeitig werden all die angesprochenen Nachteile sichtbar, wenn die Identifikation mit der Gruppe wegfällt und insbesondere das Gefühl, isoliert und abgekoppelt zu sein, steigt. Wie muss also Telearbeit optimalerweise gestaltet sein? Hier sehe ich ein großes Entwicklungsfeld. Der direkte zwischenmenschliche Kontakt liefert ja zahlreiche Hinweise, die am PC wegfallen. Es kann beispielswiese sein, dass jemand etwas sagt, was beim Gegenüber als negativ ankommt, obwohl es eigentlich ironisch gemeint war. Nimmt der andere mich ernst? Ist er aufmerksam, ist seine Mimik wach oder ist er nebenbei sogar mit anderen Dingen beschäftigt? Face-to-Face-Interaktionen sind nicht ersetzbar, Social Distancing wird daher aus meiner Sicht eher nicht die Norm werden. Ich gehe eher davon aus, dass es häufiger Hybrid-Formate geben wird.
Was meinen Sie mit Hybrid-Formaten? Eine Mischung aus virtuellem und echtem Kontakt?
Ja genau. Ich hätte gerade zum Beispiel zu einer mehrtägigen Konferenz nach Shanghai fliegen sollen. Das Ganze ist dann zu einem zweistündigen virtuellen Meeting geworden. Hier wie da haben sich kleinere Gruppen vor Ort getroffen, die schließlich zusammengeschaltet wurden. Ich glaube, das Ganze hat auch deswegen so gut funktioniert, weil es einiges an Interaktion abseits des vorgesehenen Plans gab. Die Chinesen haben uns zum Beispiel Masken geschickt. Und umgekehrt hatten wir ihnen virtuell zum 115. Geburtstag der Uni gratuliert. Beides Gesten, die über den bloßen Informationsaustausch hinaus gegangen sind und ein Zusammengehörigkeitsgefühl hergestellt haben. Auch der bewusst gewählte Hintergrund bei einer Videokonferenz kann so ein Gefühl transportieren, etwa, wenn bei einzelnen Teilnehmern das Logo ihrer Hochschule eingeblendet ist. Wir sitzen in einem Boot, wir sind füreinander da, wir machen mehr als nur einen Job – das meine ich.
Sie sind Leiter einer Abteilung. Wie sieht bei Ihnen derzeit die Zusammenarbeit aus?
Wir sind alle seit zweieinhalb Monaten im Homeoffice und nach dem, was man so mitbekommt, ist keiner wirklich glücklich damit. Es gibt aber Dinge, die helfen. So verlockend das ist, viele Kollegen gleichzeitig am Bildschirm zu haben… wir haben gefunden, dass es wichtig ist, sich zwischendurch immer mal auch zu zweit zu "treffen". Darüber hinaus haben wir uns Formate wie eine WhatsApp Gruppe überlegt, in der wir uns ab und zu kleine Jokes hin und her schicken. Es kann auch sein, dass einer fragt: Lust auf eine digitale Kaffeepause? Lasst uns in fünf Minuten online treffen. Nicht, um berufliche Themen zu bearbeiten wohlgemerkt, sondern für Smalltalk. All sowas kann unterstützen, aber nicht ersetzen.
Zur Zeit des Lockdowns gab es Menschen, die sich virtuell zu Spieleabenden oder sogar zum Wandern getroffen haben. Das Suchen nach Möglichkeiten des Miteinanders gestaltete sich unglaublich kreativ.
Ja, oder denken wir an die aus der Not geborenen Konzerte oder Leute, die deutschlandweit im Chor gesungen haben, alles online. Wie gesagt: ich kann mir vorstellen, dass es einen Teil solcher Formate künftig öfter geben wird. Ich bin aber sicher, wir werden alle froh sein, wenn wir wieder zurückkommen in die alte Welt!
Wie werden wir zurückkommen? Als die, die wir vorher waren? Oder ganz anders?
Wenn es so etwas wie einen positiven Nebeneffekt dieser Krise gibt, dann ist das für mich der, dass wir Beziehungen neu wertschätzen werden. Wir spüren das ja jetzt schon: Wie wunderbar es ist, sich wieder zu treffen. Den Freund nicht nur am Telefon zu haben, sondern vielleicht bei einem Spaziergang neben sich. Noch mal: Ich glaube, wenn die Maßnahmen des Social Distancings komplett aufgehoben sein werden, werden wir ganz schnell wieder back to normal sein. Ich gehe nicht davon aus, dass es eine bleibende Vorsicht geben wird. Was es geben wird, sind Geschichten, die wir uns noch lange erzählen werden. Die davon handeln, wie seltsam das alles für uns war.