Es ist fast still dort, wo es um Leben und Tod geht. Im Zimmer ist nur ein monotones Piepsen zu hören und das rhythmische Pumpen der Maschine, die Luft in den ermatteten Körper des Mannes im Bett presst. Der Mann schläft, tief und fest und frei von Schmerzen, seit sechs Tagen schon. Tag für Tag steht Stationsleiterin Ayse Yeter an seinem Bett im Doppelzimmer der Covid-19-Intensivstation des Stuttgarter Klinikums. Reglos liegt ihr Patient da, während sie ihn ganz vorsichtig rasiert, ihn kämmt und mit ihm spricht. "Wir kümmern uns", sagt die Krankenschwester. "Das ist immer noch ein Mensch, der da im Bett liegt."

Auch wenn der Körper dieses Menschen mit den mannshohen Maschinen an seinem Bett über Kabel und Schläuche fest verbunden ist. Auch wenn EKG-Elektroden auf seiner Brust kleben. Neben ihm surrt ein Dialysegerät und ein Turm aus Monitoren mit grünen, gelben und roten Linien und Kurven gibt die Werte für Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung und Sauerstoffsättigung im Blut wieder.

Nur einer von zwei beatmeten Covid-Patienten überlebt

Vor 15 Tagen kam der 76-Jährige auf Yeters Station, die sich zentral für die drei Häuser des Klinikums Stuttgart auf die Behandlung von schwerstkranken Covid-19-Patienten spezialisiert hat. Wie viele Tausend andere Menschen in Baden-Württemberg trägt er das Coronavirus in sich. "Der Mann war ansprechbar", erinnert sich Yeter. Damals ahnte er wahrscheinlich nicht, wie unnachgiebig ihn das Virus erobern würde. Die Krankheit breitete sich schleichend in seinem Körper aus. Die Viren zerstörten Zelle um Zelle und wanderten tief in die Lunge hinein.

Nach etwas mehr als einer Woche versetzte das Ärzteteam den  76-Jährigen in einen künstlichen Schlaf. Seitdem dämmert der alte Mann  auf der Intensivstation vor sich hin. In den anderen Betten der  Intensivstation kämpfen 15 weitere Corona-Patienten ihren eigenen  Überlebenskampf. Gestern waren es noch 18. Zwei haben ihn in der Nacht  verloren.

Nach deutschlandweiten Studien überlebt im Durchschnitt  nur einer von zwei beatmeten Covid-19-Patienten den Aufenthalt in der  Intensivabteilung. Bundesweit sind nach Zahlen des Robert Koch-Instituts  schon mehr als 13.000 Menschen mit oder an dem Virus gestorben. Gegen  Sars-Cov-2 helfen Medikamente nur begrenzt.

"Corona kennt keine Altersgrenze"

In  allen Krankenhäusern der Welt können Ärzte und Schwestern wie Yeter den  kranken Körpern nur helfen, die Folgen der Infektion zu bewältigen.  "Die ist einfach unberechenbar, diese Krankheit", sagt Yeter, die die  Station im ersten Stock der Klinik im Stadtteil Bad Cannstatt leitet.

Unweit  des Neckars hat das Klinikum Stuttgart hier eine eigene  Schwerpunktabteilung eröffnet, die sich ausschließlich um  Covid-19-Patienten kümmert. Der jüngste Infizierte an diesem Morgen ist  48, und sie werden immer jünger. "Corona kennt keine Altersgrenze", sagt  Klinikvorstand Jan Steffen Jürgensen. "In der ersten Welle haben wir  vor allem die Älteren behandelt, jetzt reicht die Spanne tatsächlich von  18 bis 100."

Vieles, sehr vieles, aber bei weitem nicht alles  kann den Maschinen  auf der Station überlassen werden. "So, wir drehen  Sie jetzt mal", sagt  Yeter zu ihrem schweigenden Schützling im Koma.  "Wir sprechen immer  mit unseren Patienten", erklärt die 49-Jährige. "Wir  wissen nicht, was  alles ankommt. Und schaden tut es nicht."

Jeder  Griff sitzt, während sie mit den beiden Krankenschwestern am  Bett den  Prozess abspricht. Die eine Hand zieht routiniert am Laken,  die andere  richtet die Schulter aus, eine weitere Schwester nimmt den  Oberarm  leicht zurück oder hält den Kopf und den Beatmungsschlauch des  großen,  schweren Mannes fest, bis er endlich flach auf dem Bauch liegt.  "Lagern"  nennt sich dieses kräftezehrende Manöver. Mehrfach am Tag  muss ein  Covid-19-Patient bewegt werden, damit sich die Luft in der  angegriffenen  Lunge verteilen kann.

Engpässe auf den Intensivstationen

Der  langwierige Verlauf der Krankheit bereitet Yeter, Jürgensen und  dem  Team des Klinikums Stuttgart die größten Sorgen. Denn wenn die  Zahlen,  die die Landesgesundheitsämter erfassen, nicht bald  zurückgehen, droht  vor der Intensivstation ein Stau.

Das Problem: Covid-19-Patienten  müssen viel länger auf der  Intensivstation behandelt werden als Kranke  nach einer Operation oder  mit einer schweren bakteriellen  Lungenentzündung. Es kommen aber immer  neue Kranke nach - und die Betten  sind noch belegt.

Die Aufwachstation vor den Stuttgarter OP-Sälen  ist für den Notfall   schon umgerüstet. Es kann nicht mehr lange dauern,  bis die zehn Betten   gebraucht werden. Die Infektionen machen sich auf  den  Intensivstationen  immer erst mit mehreren Tagen Verzögerung  bemerkbar.  Draußen steigen  die Zahlen täglich. Bald wird die  Aufwachstation zur  Auffangstation.

Auch in anderen Häusern kommt  es bereits zu Engpässen. Bundesweit   wurde die Zahl der für  Covid-Patienten geeigneten Intensivbetten nach   Angaben der Deutschen  Krankenhausgesellschaft von 20 000 auf rund 30   000 Plätze gesteigert.  Zusätzlich steht demnach eine Reserve von 12 700   Betten bereit, die  innerhalb einer Woche aktiviert werden kann.

Abstriche bei der Regelversorgung

Aber  die Stationen füllen sich schnell. Erst vor wenigen Tagen   warnte  Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor einer Verdopplung der   Zahl der  Corona-Patienten auf den Intensivstationen noch in diesem   Monat. Die  Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg fürchtet   bereits ethisch  schwierige Entscheidungen, wenn das System der   Intensivstationen an  seine Grenzen stößt. "Wir müssen dringend eine   Triage-Situation  verhindern, in der wir auswählen müssen, wen wir   optimal behandeln  können und wen nicht", sagt ihr Vorstand Norbert   Metke.

In einigen  Häusern wird die Regelversorgung bereits zurückgefahren -    nicht wegen  der Betten, sondern wegen des Personals. Denn hier droht    der eigentliche  Engpass, der vermieden werden muss, sagt der  Präsident   der Deutschen  Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-  und   Notfallmedizin (Divi),  Uwe Janssens. Er geht davon aus, dass  bereits   jetzt bundesweit 3500 bis  4000 Fachkräfte in der  Intensivpflege fehlen.   Viele der Zusatzbetten  könnten gar nicht  belegt werden, weil es das   Personal nicht gebe, um die  Patienten zu  versorgen.

Das Telefon kommt nicht zur Ruhe

Auf  Yeters Station betreut jede Krankenschwester und jeder Pfleger    schon  jetzt pro Schicht drei Covid-19-Patienten. Sie müssen große     Perfusorspritzen mit Arzneien aufziehen, die dann über Schläuche     verabreicht werden. Sie bedienen Pumpen und Maschinen, dokumentieren,     lagern und pflegen. Das alles in kompletter Schutzmontur. Stunden     vergehen bis die kleine Zinkglocke am Stützpunkt in der Mitte des Flurs     das Team zusammenruft. Danach geht es weiter. Oft mehr als zehn   Stunden   am Tag.

Wieder klingelt das tragbare Telefon, das Yeter am Revers  ihres    blauen kurzärmeligen Oberteils festgesteckt hat. Dutzende Male am  Tag    spielt das Gerät die perlende Melodie, mal ist die Pforte dran, mal   die   Medizintechnik oder der OP.

Sehr oft rufen auch Angehörige an,  die wegen des Besuchsverbots     nicht auf die Station kommen dürfen. Für  sie ist auch ein     psychosozialer Betreuer da. Er tröstet, er macht Mut,  aber nicht selten     muss er auch die bittere Nachricht überbringen, dass  die Therapie   nun   abgesetzt werden muss. Denn bei Sterbenden macht die  Klinik   Ausnahmen   vom Besuchsverbot. Allerdings nur für die engsten    Angehörigen.

Alle Hoffung liegt auf dem Impfstoff

Durch  das Verbot soll auch das Risiko von Infektionen so gering wie     möglich  gehalten werden. Die Station ist eine abgeschirmte    Gesellschaft  an  vorderster Corona-Front. Aus ihr kommt nichts hinaus,    das nicht   desinfiziert wurde - das gilt für die weißen    Medizinersöckchen und die   FFP2-Masken, für Schutzbrillen und    Papierblöcke genauso wie für   Schläuche, Latexhandschuhe und Hosen, für    Plastiklatschen und die grünen   Häubchen, die die Haare abdecken.   "Man  muss immer im Hinterkopf haben,   dass das Virus überall anhaften    kann", sagt Yeter.

Ihre Hoffnung  am Ende des Tages? Der Impfstoff. "An irgendetwas muss     man ja glauben",  sagt Ayse Yeter. Sie lächelt tapfer und wird dann     schlagartig ernst.  Nach Stunden am Bett todkranker Menschen, nach  der    Arbeit zwischen  Dienstplänen und Schläuchen, nach dem Anblick     kraftloser Körper macht  sie vor allem eines wütend: Die     Leichtfertigkeit, mit der Zehntausende  nach wie vor dem Virus begegnen.     "Die Querdenker, die Skeptiker, die  Kritiker. Die sollen mal einen    Tag  kommen und sich anschauen, was sich  hier abspielt."