Krebs soll vorgehen, trotz Pandemie
Es gibt einen jährlichen Termin im Leben von Theresia Rehwald, den sie zugleich fürchtet und herbeisehnt. Einmal im Jahr geht die 46-Jährige in eine Tagesklinik in Mitteldeutschland zur Brustkrebsfrühdiagnostik. Bei Rehwald ist der Termin aber nicht nur ein einfacher Vorsorgetermin – sie wird höchstwahrscheinlich im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an Brustkrebs erkranken. Der Grund: In ihrem Erbgut sind einige Gene, die eine Entstehung von Brustkrebs deutlich begünstigen. Diese Gene hat sie womöglich auch an ihre Tochter vererbt. Das ist der Grund, deshalb ist ihr Name in diesem Artikel geändert. "Vor dem Termin habe ich immer große Angst. Mindestens genauso groß ist dann aber auch die Erleichterung, wenn nichts Auffälliges gefunden wurde", sagt Theresia Rehwald.
In diesem Jahr wäre der Termin Ende Mai gewesen. Im April kam der Anruf: Wegen der Corona-Pandemie werde die Untersuchung leider auf unbestimmte Zeit verschoben, man müsse Kapazitäten freihalten. Rehwald war geschockt. "Der Anruf warf mich aus der Bahn, ich hatte mich innerlich schon seit Wochen auf den Termin eingestellt", erzählt sie. Was, wenn nun ein Tumor unbemerkt in ihr wuchs? Je später er entdeckt und behandelt würde, desto schlechter wären doch die Heilungschancen!
Krebsvorsorge litt unter Corona Pandemie
Theresia Rehwald ist mit dieser Situation nicht allein: Hunderttausende Krebsvorsorgetermine wurden während der Corona-Pandemie in Deutschland abgesagt. Das Mammographie-Screening-Programm stellte seine Tätigkeit vorübergehend ein. Darmspiegelungen, Prostata- und Hautkrebsvorsorge – Leistungen, die vorwiegend von niedergelassenen Praxen erbracht werden – entfielen. Dabei kam die Zurückhaltung nicht nur von Seiten der Ärzte, sondern auch von Seiten der Patienten. Denn vor allem in der Anfangsphase der Pandemie hatten viele Menschen Angst, sich ausgerechnet in der Arztpraxis oder im Krankenhaus mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken. Und einen Vorsorgetermin sagt man eben leichter ab – wenn man nicht gerade Risikopatientin ist wie Theresia Rehwald.
Auch viele Menschen, die wegen verdächtiger Symptome normalerweise zum Arzt gegangen wären, blieben sicherheitshalber zu Hause. "Man kann davon ausgehen, dass viele Krebserkrankungen wegen der Corona-Pandemie noch nicht oder verspätet diagnostiziert wurden", sagt der Arzt und Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft Dr. Johannes Bruns. Das wiederum kann ungünstige Auswirkungen auf die Prognose haben.
Auch viele Menschen, die wegen verdächtiger Symptome normalerweise zum Arzt gegangen wären, blieben sicherheitshalber zu Hause. „Man kann davon ausgehen, dass viele Krebserkrankungen wegen der Corona-Pandemie noch nicht oder verspätet diagnostiziert wurden“, sagt der Arzt und Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft Dr. Johannes Bruns. Das wiederum kann ungünstige Auswirkungen auf die Prognose haben.
Behandlung je nach Dringlichkeit
Bei den bereits diagnostizierten Krebspatienten hingegen, wo es vor allem um die Therapie geht, wurde die Versorgung in großen Teilen offenbar weitgehend aufrechterhalten. "Behandlungen, die schon liefen, hat man in aller Regel so weitergeführt. Und wer eine neue Krebsdiagnose hatte und dringend eine Therapie brauchte, der hat sie in der Regel auch bekommen", sagt Bruns. Doch selbst bei Krebs gilt: Nicht jede Behandlung ist dringend.
Und was nicht dringend war, verzögerte sich auch in der Krebsmedizin (Onkologie). Das zeigen die Daten des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) – wenngleich der Rückgang der Versorgung bei Krebs noch vergleichsweise moderat ausfiel. Während es bei Brustkrebserkrankungen tatsächlich keine Abnahme der Behandlungszahlen gab, wurde bei Darmkrebs 22 Prozent weniger operiert. Zum Vergleich: Die Krankenhaus-Fallzahlen für März und April nahmen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 42 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum ab, bei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems - wie etwa Hüftoperationen - sogar um 65 Prozent. Die Fachgesellschaften hatten bei Darmkrebs zwar geraten, auch während der Pandemie alle Patienten zeitnah zu operieren, bei denen eine vollständige Heilung möglich ist (kurativer Behandlungsansatz). Bei Tumoren hingegen, die als nicht heilbar gelten, wurden womöglich nicht dringende Eingriffe verschoben. Zusätzlich trug wahrscheinlich auch eine geringere Zahl an Neudiagnosen – wegen des Aussetzens der Darmkrebs-Früherkennungs-Untersuchungen – zu einem Rückgang stationärer Darmkrebsbehandlungen bei.
Teilweise Verunsicherung unter Krebspatienten
Die Deutsche Krebshilfe schätzt, dass bis Mitte Juni insgesamt 50.000 geplante Krebsoperationen nicht zustande kamen. "Vor allem im März und April hatten wir eine Reihe von Anrufen besorgter Krebspatienten, deren Behandlungstermine verschoben oder sogar abgesagt wurden", berichtet Dr. Susanne Weg-Remers, die Leiterin des bundesweiten Krebsinformationsdienstes aus Heidelberg. Dabei ging es zwar nicht immer um dringend notwendige Eingriffe. "Aber auch ein geplanter Krankenhausaufenthalt, ein Nachsorgetermin oder eine Reha ist für einen Krebspatienten etwas, worauf er sich innerlich einstellt, was ihm gewissermaßen auch Stabilität gibt. Eine Absage kann hier eine enorme Verunsicherung hervorrufen", sagt Weg-Remers.
Auch in der Psychoonkologie zeigt sich die neue Situation für Krebspatienten: Schließlich gelten sie als Risikogruppen für einen schweren Verlauf von Covid-19. "Natürlich sind viele Krebspatienten durch die Corona-Pandemie verunsichert, vor allem in den ersten Wochen war das spürbar", erzählt Dr. Monika Özman aus dem Alltag ihrer Schwerpunktpraxis Psychoonkologie in Aachen. Aber sie hat auch einige Patienten, die mit der Pandemie und dem Lockdown erstaunlich souverän umgegangen sind. Teilweise seien sie daran sogar gewachsen: "Dass nun nicht nur Krebspatienten, sondern fast alle Menschen verunsichert waren und sich isoliert haben, war für manche meiner Patienten fast wie ein kleiner Trost. Das hat eine Art Gemeinschaftsgefühl geschaffen und manchmal sogar neue Kraft entfaltet", sagt Özman.
Der Normalzustand ist fast wieder eingekehrt
Längst ist in die Onkologie Normalität zurückgekehrt – wenn auch die viel beschworene neue Normalität mit geöffneten Fenstern, Mundschutz und Abstand. Die Vorsorge-Untersuchungen werden wieder aufgenommen. Auch Theresia Rehwald hatte einen neuen Termin bekommen. Kein Krebsverdacht. Die Erleichterung hält bis heute an.
Und auch in der Diagnostik herrscht fast wieder Normalbetrieb. Die Patienten seien weniger zurückhaltend, die Zahl derer, die wegen Beschwerden zur Abklärung in die Klinik kommen, sei fast wieder so hoch wie vor Corona, sagt Bruns. Und Weg-Remers vom Krebsinformationsdienst beobachtet: "Das Thema Corona nimmt bei den Telefonanrufen einen immer kleineren Raum ein."
In der Therapie kommt es teilweise bereits sogar zu einer überdurchschnittlich hohen Auslastung. Zwar gibt es wegen der ausgesetzten Vorsorgeuntersuchungen noch immer weniger neue Krebsdiagnosen als vor der Pandemie, aber dafür müssen die verschobenen Termine nachgeholt werden. Kommt es in naher Zukunft zu mehr "nachgeholten" Krebsdiagnosen, könnten die Kapazitäten in der Onkologie kurzfristig voll ausgelastet oder gar überlastet sein. Aber dann ist da ja immer noch das Virus, das in in einer nächsten Welle womöglich wieder alles durcheinanderbringen kann.
Vorgehen bei zukünftigen Wellen
Künftige Lockdowns aber dürften wohl weniger strikt und umfassend ausfallen, davon gehen Ärzte und Epidemiologen aus. Bei der ersten Welle waren auch viele Mediziner noch vorsichtig, die Entscheider in den Kliniken hatten die Bilder aus Italien vor Augen, wo die Krankenhäuser völlig überlastet waren. "Es wird auch bei künftigen Wellen oder Pandemien immer eine Balance geben müssen zwischen dem Freihalten von Kapazitäten und dem Aufrechterhalten des normalen Krankenhausbetriebs. Aber mit den gemachten Erfahrungen kann man mehr Augenmaß ansetzen", sagt Bruns.
Er plädiert dafür, die Unterscheidung für eine Behandlung nicht mehr in lediglich zwei Kategorien "elektiv" (ein geplanter medizinischer Eingriff "ohne Dringlichkeit") und "dringlich" zu fassen, sondern eine feinere Gliederung einzuführen. "Gerade in der Onkologie braucht es eine genauere Unterscheidung, um behandlungsbedürftige Patienten zu identifizieren."
Er plädiert dafür, die Unterscheidung für eine Behandlung nicht mehr in lediglich zwei Kategorien „elektiv“ (ein geplanter medizinischer Eingriff „ohne Dringlichkeit“) und „dringlich“ zu fassen, sondern eine feinere Gliederung einzuführen. „Gerade in der Onkologie braucht es eine genauere Unterscheidung, um behandlungsbedürftige Patienten zu identifizieren.“
Auch in Bezug auf die Zurückhaltung von Seiten der Patienten hofft Bruns bei künftigen Wellen darauf, dass die Patienten bei verdächtigen Symptomen nicht aus Angst vor der Pandemie zu Hause blieben, denn das sei in vielen Fällen die falsche Entscheidung: „Die Behandlung von Krebs ist in der Regel wichtiger als ein vermeintlich erhöhtes Infektionsrisiko.“