Baby und Familie

Eigentlich ist es eine beruhigende Nachricht: Vier medizinische Fachgesellschaften fordern, Kindertagesstätten und Schulen trotz der Corona-Pandemie umgehend für alle zu öffnen. In einer gemeinsamen Stellungnahme begründen die Mediziner das mit den zahlreichen Erkenntnissen, die gegen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder sprechen, insbesondere wenn sie unter zehn Jahre alt sind.

Für die einen bedeutet das Entwarnung, es gibt aber auch Familien, die sich jetzt umso mehr Sorgen machen – Eltern von Kindern mit Asthma oder Rheuma zum Beispiel oder Familienangehörige, die aufgrund chronischer Erkrankungen zur Risikogruppe gehören. Denn durch die vielen Lockerungen kommen die Menschen wieder häufiger in Kontakt. Damit steigt auch das Risiko, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren, denn das ist ja nicht plötzlich verschwunden.

Die meisten Vorerkrankungen bei Kindern sind kein Grund zur Panik

"Eltern von Kindern mit chronischen Krankheiten wie zum Beispiel Rheuma oder auch Grunderkrankungen wie einem angeborenen Herzfehler müssen natürlich achtsam sein, aber auch bei ihnen besteht kein Grund zu übergroßer Vorsicht. Krankheiten, die Kinder in ihrer Lebensqualität im Alltag wenig beeinträchtigen und medikamentös gut behandelt sind, erhöhen das Risiko für eine schwere COVID-19-Erkrankung nicht", beruhigt Prof. Dr. Reinhard Berner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Dresden. Selbstverständlich sollte eine Asthma-Erkrankung gut kontrolliert sein. Bei Kindern mit Diabetes sollte der Blutzuckerwert stabil und gut eingestellt sein.

Kinderarzt Berner plädiert in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) dafür, dass Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1, Asthma, Rheuma oder angeborenen Herzfehlern am Unterricht teilnehmen. "Die meisten COVID-19-Erkrankungen bei Kindern verlaufen sehr mild oder komplett ohne Symptome – selbst bei Kindern mit Vorerkrankungen, die auch sonst ganz normal am Leben teilnehmen können", sagt Berner, der unter anderem im Vorstand der DGKJ sitzt.

Das bestätigen laut einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler e.V. die bisherigen Daten aus Deutschland, mehrerer tausend Kinder aus China und den USA und Erfahrungsberichte aus Frankreich, Spanien und England. Demnach sind die bekannten Risikofaktoren von Erwachsenen, zum Beispiel schwere chronische Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck für Kinder weniger relevant.

Individuelle Entscheidungen sind notwendig

Jedoch weiß man auch, dass ein Viertel der wegen COVID-19 stationär behandelten Kinder und die Hälfte der auf der Intensivstation behandelten Kinder eine Grunderkrankung hatten. In der Stellungnahme schreiben die Experten daher, dass es keine pauschale Einschätzung des Risikos gibt – und dass Eltern sich also immer mit dem behandelnden Spezialisten abstimmen sollten. Zudem geben sie den Hinweis, dass bei den Kindern, denen aufgrund ihrer chronischen Erkrankung vom Kinderarzt eine Impfung gegen Influenza empfohlen wurde, auch ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf bei einer SARS-CoV-2-Infektion vorliegen könnte.

"Nur einer sehr kleinen Gruppe allerdings raten wir vom Besuch der Kita oder der Schule ab", sagt Berner. Dazu zählen zum Beispiel Kinder mit Leukämie, die gerade in Behandlung sind. Oder Patienten mit schwersten Autoimmunerkrankungen oder schwerem Immundefekt, die auch mit jedem anderen Infekt gesundheitlich gefährdet wären. Auch Kinder mit chronischen Krankheiten, die die Lungen- oder Nierenfunktion stark beeinträchtigen, könnten ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf haben. Die Betonung liegt laut dem Experten auf "könnten", denn bisher hatten auch Kinder mit schweren chronischen Krankheiten erstaunlich wenig Komplikationen bei einer COVID-19 Erkrankung.

Von einer generellen Schulbefreiung rät der Kinder- und Jugendarzt deshalb ab – das sollte in jedem Fall der behandelnde Arzt entscheiden, der das Kind und die Familie kennt. "Einzelfälle mit schwerem Verlauf wird es natürlich geben. Aber die sind extrem selten. Die zuletzt in den öffentlichen Blick geratene Erkrankung, die dem sogenannten Kawasaki-Syndrom ähnelt, bei dem das Immunsystem sehr stark überreagiert, trifft nicht bevorzugt Kinder mit einer Grunderkrankung", sagt Berner.

Kinder übertragen das Virus nicht häufiger als Erwachsene

Bislang ging man davon aus, dass kleine Kinder das Coronavirus stark verbreiten würden. "Zugrunde gelegt wurden Erfahrungen mit anderen Infektionskrankheiten, etwa der Influenza. Hier sind Kinder besonders ansteckend. Mittlerweile mehren sich aber die Erkenntnisse aufgrund von Erfahrungen aus vielen Ländern, zum Beispiel in Australien, USA oder Italien, sowie von Studien, etwa aus Island, dass Kinder bei der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 keine überragende Rolle spielen. Konkrete Aussagen dazu können wir aber immer noch nicht treffen, dazu sind derzeit viele Studien in Arbeit, die sich mit der Weiterverbreitung des Virus durch Kinder befassen", erklärt Berner. Trotzdem bestehe natürlich ein Risiko, dass Kinder das Virus aus Schule und Kindergarten mit nach Hause bringen, da sie dort viele Kontakte haben.

Deshalb sind die geltenden Hygieneregeln wie gründliches Händewachen mit Seife, Niesen und Husten in ein Papiertaschentuch oder in die Ellenbeuge und ein Mindestabstand von 1,5, bis zwei Metern so wichtig. "Doch es ist eine Illusion, zu glauben, dass Kinder den Abstand auf Dauer konsequent einhalten", sagt Berner. "Vielleicht im Unterricht, aber sobald sie zur Tür raus sind, denken sie nicht mehr daran."

Das kann die Ansteckungsgefahr für Eltern und Großeltern, die zur Risikogruppe gehören, erhöhen. Kindern zum Beispiel von Krebspatienten, die gerade in Behandlung sind, würde der Mediziner deshalb gegebenenfalls zu einer Befreiung vom Unterricht raten und sie besser auch nicht in den Kindergarten schicken. Aber auch hier muss im Einzelfall gemeinsam mit dem behandelnden Arzt entschieden werden.

Kreative Lösungen sind gefragt

Doch wie erklärt man Kindern, dass sie ihre Freunde weiterhin nicht sehen können, weil Mama gerade eine Chemotherapie macht oder Opa eine schwere Lungenerkrankung hat? "Auch wenn Kinder verstehen, dass Mama oder Opa besonderen Schutz brauchen, so ist nach Monaten ohne Freunde die Luft raus", erklärt Kinderpsychologin Prof. Dr. Hanna Christiansen von der Universität Marburg.

Die Situation für betroffene Kinder ist umso schwerer, da sich die Regeln für die anderen geändert haben, während sie selbst weiter isoliert bleiben müssen. Eltern sollten auf jeden Fall nochmal mit den Kindern sprechen und die Familienregeln erklären: "Ich bin krank und deshalb ist das Coronavirus für mich gefährlich. So leid uns das tut und so blöd das ist, wir können nicht erlauben, dass deine Freunde zu uns zum Spielen kommen."

Trotzdem sollten Familien jede noch so kreative Lösung durchspielen. Vielleicht kann der kranke Opa in der Zwischenzeit zur kinderlosen Tante ziehen? Falls das nicht geht, wie wäre es mit wenigstens einem Lieblingsfreund, den das Kind mit Mund-Nasen-Bedeckung besuchen darf? Gibt es Ideen, doch am Unterricht teilzunehmen – im Notfall per Videochat? Wie wäre täglich ein Spaziergang zur besten Freundin mit Eis essen am Zaun?

Oder man überlegt sich Spiele, die den Abstand leichter machen: Tischtennis oder Tennis statt Fußball zum Beispiel. Auch Fahrradausflüge oder Picknicks mit zwei Decken sind denkbar. "Kindergartenkindern kann man es spielerisch erklären", schlägt Christiansen vor: "Das eine Kind darf nur auf die blauen Handtücher, das andere bleibt auf den roten Flächen." Die große Herausforderung für Eltern sei, dass sie ständig das Annäherungsverhalten der Kleinen unterbrechen müssen. "Das ist ja gerade das, was wir uns in normalen Zeiten wünschen: Kontakt", erklärt die Kinderpsychologin.

Die seelische Gesundheit zählt auch

Das ist der zentrale Konflikt: Einerseits möchten Eltern ihr Kind oder einen Angehörigen schützen, wenn diese aufgrund einer Erkrankung zur Risikogruppe gehören, andererseits wissen sie auch, wie wichtig es ist, dass die Kinder jetzt wieder mit Gleichaltrigen zusammenkommen. Auch Hanna Christiansen bestätigt die Gefahr, die von einer langen Pause von Schule, Kindergarten und Freunden ausgeht: "Wir machen uns Sorgen, was die Entwicklung der Kinder angeht. Kinder lernen so viel voneinander: Konflikte aushalten zum Beispiel. Sie begegnen sich gleichberechtigt und auf Augenhöhe." Ein Videochat sei nicht dasselbe wie Buddeln im Sandkasten oder Ballspielen. "Kindern fehlt der strukturierte soziale Kontakt. Sie fallen aus ihren Beziehungen raus und das schadet ihrer Gesundheit auf Dauer mehr als es nützt", erklärt sie.

Beide Experten raten deshalb betroffenen Eltern in Absprache mit dem Arzt abzuwägen. "Das Coronavirus wird uns noch weit bis ins Jahr 2021 begleiten. Es geht nicht um Wochen, sondern Monate", geben beide zu bedenken. Das Wichtigste sei natürlich die Gesundheit der Kinder: Aber dazu gehöre auch die seelische Gesundheit, das soziale Wohlergehen und die altersgemäße Entwicklung. Und dafür brauchen Kinder andere Kinder.