Infos zum Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"
Bei dieser Aktion kooperieren der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff), das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben und die Bundesvereinigung Deutscher Apothekenverbände ABDA und informieren zum Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen". Wir haben darüber mit Ursula Schele, Vorstandsfrau des bff gesprochen.
Frau Schele, wie kam es zu der Aktion?
Zunächst gab es schon früh Erkenntnisse aus China. Aus dem anfänglichen Epizentrum des Ausbruchs von COVID-19 kamen Berichte über eine massive Zunahme von Gewalt gegen Frauen. Ähnliche Berichte folgten aus Ländern wie Frankreich und Spanien. Auch wenn die Quarantänemaßnahmen dort ja noch viel rigider waren als bei uns in Deutschland, war klar, was zu erwarten ist. Darauf haben Organisationen wie der Bundesverband der Frauennotrufe oder der Bundesverband der Frauenhäuser mit entsprechenden Statements reagiert. Sogar aus der Beratung für gewaltbereite Männer kamen Signale: Was kann ich tun, bevor ich ausraste? Auf solche Fragen wurde auf Websites eingegangen. Fachleute, Politik und Verwaltung sowie die Öffentlichkeit waren also sensibilisiert.
Und dann wurde überlegt, wie man das Thema weiter aufgreifen und Betroffenen konkret helfen kann?
Genau. Zugebenen: Mich hat erstaunt und erfreut, wie schnell und konkret die wachsende Gefahr durch häusliche und sexuelle Gewalt auf allen Ebenen, von Politik über Medien bis hin zu Polizei und Ministerien angekommen ist. Dabei ist das Thema ja an sich nichts Neues. Die Corona-Krise funktioniert hier eher wie ein Brennglas. Gesamtgesellschaftliche Probleme und Schwachstellen werden jetzt besonders sichtbar. Als das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend im vergangenen Jahr Pressemeldungen rausgegeben hat, in denen es hieß "jeden zweiten Tag versucht ein Mann, eine Frau zu ermorden und jeden dritten Tag gelingt es" ließ das die Leute aufhorchen. Tatsächlich aber sind diese Zahlen seit Jahrzehnten bekannt.
Könnte die aktuelle Krise hier ein Stück weit auch eine Chance sein? So wie im vergangenen Jahr bei "Me too"?
Tatsächlich, daran denke ich oft. Wenn Corona hilft, den Fokus ins häusliche Umfeld zu legen und wenn bekannter wird, dass der statistisch gesehen gefährlichste Mann im Leben einer Frau ihr Ehemann beziehungsweise daneben ihr Exmann ist, dann hilft das. Gut, wenn das Thema weiter aus der Tabu-Zone kommt und wir wie bei Me Too endlich im großen Stil darüber reden. Mit zu viel Optimismus bin ich allerdings vorsichtig, denn neben all den erfreulichen Entwicklungen gibt es auch Sorgenvolles. Ich denke da etwa an zahlreiche präventiv arbeitende und oft komplett eigenfinanzierte Fachstellen, die jetzt drastische finanzielle Einbußen haben. Außerdem stehen wir erst am Beginn der Krise und die individuelle und finanzielle Zermürbung schreitet möglicherweise noch weiter voran.
Was versprechen Sie sich von der nun angelaufenen Aktion?
Viel. Apotheken sind genau der richtige Ort dafür, da sie aufgrund ihrer Beratungskompetenz für seriöse Information stehen. Auch stimmt die Erfahrung hoffungsvoll, dass Frauen das Angebot annehmen werden. Der Vorläufer des jetzigen Hilfetelefons war vor Jahren die "Frauenhelpline" in Schleswig Holstein. Wie erreichen wir Frauen, die wir sonst nicht erreichen, fragten wir uns und sind dann eine Kooperation mit dem Apothekerverband in S-H eingegangen: Alle Frauen, die in die Apotheke kamen, bekamen ein Päckchen Taschentücher mit Aufdruck der Helpline mit. Die Anrufzahlen sind damals sprunghaft – und nachhaltig – angestiegen. Noch Monate später meldeten sich Frauen und meinten: Ich habe da gerade ein Taschentuch aus der Handtasche gezogen und mich erinnert. Jetzt ist es soweit, ich hole mir Hilfe.
Wie wird Frauen geholfen, wenn sie die Nummer des Hilfetelefons wählen?
Sie bekommen Tipps zur akuten Krisenbewältigung. Auch eine erste Klärung gesetzlicher Möglichkeiten ist möglich und bei Bedarf wird an die Polizei, Kliniken, Frauenhäuser oder Fachberatungsstellen verwiesen. An letztere kann ich mich übrigens auch direkt wenden und digital oder in der Bratungsstelle einen Termin vereinbaren.
In Spanien können Frauen das Codewort "Maske 19" sagen, wenn sie in die Apotheke kommen – das Personal weiß dann, dass die Frau bedroht ist und Hilfe braucht.
Das sehen wir kritisch. Zum einen müssten die Beschäftigten in der Apotheke gut geschult sein, um zu wissen, wie sie reagieren können – und das halten wir für unrealistisch. Zum anderen gehe ich davon aus, dass eine Frau, die für einen Gang in die Apotheke unterwegs ist, auch dazu in der Lage ist, über ihr Handy an Hilfe ranzukommen. Und dass sie sich gestärkt durch die Aktion jetzt eher dazu überwinden wird. Wenn wir das erreichen könnten, wäre das ein Meilenstein. Sich Hilfe holen ist nicht Petzen – schon kleine Kinder sollten das lernen!
Gibt es bereits Anhaltspunkte für eine Zunahme von Übergriffen in der aktuellen Krise? Können Sie hier Zahlen nennen?
Da die Beratungsstellen ihre Berichte jeweils erst zum Jahresende abgeben, müssen wir mit aussagefähigen Erhebungen noch warten. In einigen Monaten werden wir die Situation für ganz Deutschland erfasst haben und fundierter beurteilen können. Aber schon jetzt gibt es Hinweise, was in zahlreichen Haushalten passiert. Als Vorsitzende des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe werde ich ja regelmäßig von unseren Verbandsräten aus allen Bundesländern informiert. Fakt ist: Seit zwei, drei Wochen ziehen die Zahlen an, melden sich vielerorts mehr Frauen als sonst. Frauen, die sich bedroht fühlen, Opfer wurden und nicht mehr weiterwissen. Generell müssen wir mit Zahlen und Trends aber vorsichtig sein, sie sind keinesfalls repräsentativ. Mit unseren Hilfsangeboten erreichen wir ja stets nur einen Bruchteil der betroffenen Frauen. Gerade bei den aktenkundig gewordenen Fällen tauchen nur diejenigen auf, die Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht haben und – ganz wichtig – die die Anzeige nicht auf Druck des Täters oder der Familie wieder zurückgezogen haben.
Warum tun Frauen sich so schwer, das Problem zu benennen und wieso machen viele, die zunächst einen Anlauf starten, wieder einen Rückzieher?
Das hat mehrere Gründe. Zum einen: Das Dilemma ist für Betroffene extrem schambehaftet. Oft fühlen die Frauen sich verantwortlich, wenn es in den eigenen vier Wänden eskaliert. Schließlich sind sie mit dem Menschen, unter dem sie so leiden, ja mal eine Liebesbeziehung eingegangen, haben Kinder mit ihm bekommen und so weiter. Sich im Falle von Übergriffen Hilfe zu holen kommt vielen wie ein persönliches Versagen vor. Dazu kommt, dass man den Kindern nicht einfach so den Vater entziehen will oder kann. Unterm Strich scheint es vergleichsweise naheliegender, sich selbst zumindest sowas wie eine Mitschuld einzureden: Ich bin schlampig gewesen. Die Kinder waren so laut. Ich war nicht immer liebevoll genug. Hab provoziert. Die nun anlaufende Aktion kann hier hoffentlich gegensteuern. Wenn klar wird, dass Frauen, die Opfer von Gewalt werden, nicht Schuld sind und dass Gewalt durch nichts zu entschuldigen ist, ist viel gewonnen.
Können Sie erklären, wieso es jetzt mit Corona vermutlich noch häufiger zu Eskalationen im häuslichen Umfeld kommt?
Aus der Beratungsarbeit wissen wir, was hier mögliche Rahmenbedingungen sind. Ergo können wir sagen, was geschieht, wenn diese Rahmenbedingungen sich verschlechtern. Ein wichtiger Punkt sind die fehlenden Ausweichmöglichkeiten seit Beginn des Lockdowns. Das vertrauliche Telefonat ist plötzlich genauso wenig möglich wie der Gang zur Beratungsstelle, die wegen Corona vielleicht geschlossen werden musste. Und auch in die Kneipe gehen oder Fußball gucken geht nicht mehr – all die Dinge, bei denen Männer so gern Dampf ablassen. Da kommt gerade vieles zusammen und vergessen wir nicht: Gewalt gegen Frauen ist kein reines Aggressionsdelikt, geht oft einher mit Demütigungen und Zermürbung. Wo die Nerven blank liegen, steigt die Gefahr der Eskalation. Stellen wir aber "die Männer" nicht unter Generalverdacht und machen wir nicht den Fehler, das Thema als ein biologisches, im Geschlecht verankertes zu sehen. WHO-Studien zeigen: Je emanzipierter das Land, desto weniger Gewalt gegen Frauen gibt es. Skandinavische Länder oder auch Island zum Beispiel stehen schon besser da. Berichte aus Ländern wie Afghanistan oder der Türkei dagegen alarmieren noch mehr als bei uns.
Das Drama spielt sich in allen sozialen Schichten ab, heißt es.
Richtig. Es ist keineswegs nur der arbeitslose Alkoholiker mit Migrationshintergrund, an den wir denken sollten. Gewalt gegen Frauen finden wir quer durch die Gesellschaft, sie kommt in der Villa genauso vor wie in der Mietskaserne. Nur sind in der Villa vielleicht die Wände dicker und die Nachbarn, die Hilfe holen könnten, weiter weg.
Sie haben eben erklärt, wieso Frauen sich schwertun, den Ausweg aus destruktiven Beziehungen zu finden. Aber wie geraten sie da überhaupt hinein?
Wir sprechen vom Rad der Gewalt, einem Kreislauf von Aggressionsaufbau, Erniedrigung, Versöhnung und Einwilligung seitens der Frau. "Ab jetzt wird es wirklich besser", so zu denken ist typisch, gerade, wenn Männer reumütig zu Kreuze kriechen. Für den Moment verschafft das Erleichterung: Ich muss also nicht mein ganzes Leben in Frage stellen, alles aufgeben. In den allermeisten Fällen dreht sich das Rad aber weiter, kommt es zu neuen Ausbrüchen und Eskalationen – gerade auch in Trennungsphasen. Interessanterweise berichten Frauen oft, dass sie es zunächst ganz attraktiv und schmeichelhaft fanden, einen eifersüchtigen, besitzerreifenden, vielleicht sogar ein wenig "herrischen" Mann zum Partner zu haben. Ich sag mal so: Nicht jeder Macker wird zum Gewalttäter. Aber es ist gut, wenn Frauen im Bewusstsein haben, dass das passieren kann und wenn sie wissen, was sie im Konfliktfall tun können.