Gesundheitsbildung: Corona zeigt Lücken auf

Probleme bei der Gesundheitskommunikation: Was Experten raten, kommt bei Laien oft nicht an
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Der folgende Text gibt die Ansichten von Doris Schaeffer, Klaus Hurrelmann und Sebastian Schmidt-Kaehler im Namen der Geschäftsstelle des Aktionsplans wieder. Sie haben analysiert, wie die Kompetenz der Bevölkerung im Bereich Gesundheit gestärkt werden sollte:
Informationsdefizite bei großem Anteil der Bevölkerung
Schon vor der Coronakrise war die geringe "Gesundheitskompetenz" der Bevölkerung ein dringliches Thema. Mit diesem Begriff wird die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum souveränen Umgang mit Gesundheitsinformation verstanden – also Nachrichten und Befunde gezielt zu suchen, zu verstehen, sich durch die Vielfalt an richtiger und falscher Information hindurch zu kämpfen und das alles am Ende auf die eigene Lebenslage zu übertragen. Eine repräsentative Studie der Universität Bielefeld zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland zeigte schon im Jahr 2015, dass mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger hiermit große Schwierigkeiten hat.
Als Reaktion auf diese irritierenden Ergebnisse wurde im Jahr 2018 von einer Expertengruppe der "Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz" entwickelt. Ein gutes Dutzend Fachleute aus Wissenschaft und Praxis haben auf Einladung der Universität Bielefeld und der Hertie School of Governance in Berlin unter Schirmherrschaft des Bundesministers für Gesundheit über ein Jahr lang alle wissenschaftliche Studien zu diesem Thema gesichtet.
Wie man Schritt für Schritt die Kompetenz erhöhen könnte
Daraus leiteten sie 15 Empfehlungen ab, die dazu dienen sollen, schrittweise die Kompetenz der Bevölkerung zu erhöhen, mit gesundheitsrelevanten Fragen umzugehen und die richtigen Lösungen für sich selbst abzuleiten. Von Gesundheitsbildung in Kindergarten und Schule über das Gesundheitsmanagement in Unternehmen und Behörden, die Stärkung der gesundheitsfördernden Rolle der Kommunen, Einkaufsläden, Restaurants und Medien bis hin zur Verbesserung der Gesundheitskommunikation in den medizinischen Versorgungseinrichtungen und Pflegeheimen – für alle Lebenswelten wurden Vorschläge unterbreitet, wie Laien und Profis befähigt werden können, sich kompetent mit gesundheitlichen Informationen auseinanderzusetzen.
In Zeiten der Corona-Krise erhalten diese 15 Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans eine ungeahnte Dringlichkeit. Während es zu Beginn der Pandemie an Information mangelte und kaum handlungsleitende Informationen aufzufinden waren, gibt es inzwischen eine regelrechte Schwemme von Nachrichten. Die Pandemie wird von einer "Infodemie" begleitet. Die Menge der Informationen zum Corona-Virus, so scheint es, wächst noch viel schneller als die Infektionszahlen selbst, und diese Informationen sind äußerst schwer zu decodieren. Seit das Virus Kurs auf Europa genommen hat, schlägt die Stunde der Epidemiologen, Infektions- und Hygienemediziner. Die Bürgerinnen und Bürger lernen das Robert Koch Institut kennen und folgen gebannt den Worten seines Präsidenten. Sie lernen den Begriff der "Herdenimmunität" kennen und werden angehalten, sich mit dem Verlauf von Infektionskurven zu beschäftigen. Viele Epidemiologen vermitteln der Eindruck, man müsse den dynamischen Verlauf der Pandemien verstehen, um einschätzen zu können, ob man selbst oder die nächsten Angehörigen zu einer "vulnerablen Gruppe" gehören oder sogar in Lebensgefahr sind.
Bevölkerung wird verunsichert von der "Infodemie"
Was bei den Menschen in einer solchen Ausnahmesituation ankommt, ist eine Mixtur aus Widersprüchen, Unsicherheiten und kaum verstehbaren Fachbegriffen. Die Vielzahl der Corona-Ticker, voll-kommen überlastete Telefon-Hotlines und soziale Netzwerke machen die Situation nicht besser. In Zeiten der Irritation verbreiten sich Fake News viral im Netz und sorgen für Panik und Fehleinschätzung der aktuellen Lage.
Wer sich ein eigenes Bild der Lage machen möchte, muss in verschiedenen Medien an Dutzenden von Orten recherchieren. Meist sind die mühselig gefundenen Hinweise dann auch noch zu wenig passend für die jeweilige Zielgruppe. Besonders dann, wenn es um alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen geht oder auch um obdachlose.
Überforderung führt zu Ängsten in der Bevölkerung
Gesundheitskompetenz, so zeigen diese Beobachtungen, ist gerade jetzt unabdingbare Voraussetzung für ein gesundheitsbewusstes Verhalten. Angesichts der Corona-Pandemie wird diese Kompetenz immer bedeutsamer, zumal mit dem Virus jeden Tag neue Fragen auf die Tagesordnung geraten, für die neue Informationen benötigt werden. Und so wirkt die aktuelle Situation wie eine überzeichnete Karikatur dessen, was schon vor Corona beklagt wurde: Überforderung im Umgang mit medizinischen Informationen und Fachbegriffen, Orientierungslosigkeit in der Instanzenvielfalt des Gesundheitssystems und einer unzureichenden und unübersichtlichen Beratungslandschaft.
ie Angst geht um. Das Virus zeigt uns Grenzen auf. Nichts ist mehr so, wie es war. Keine Verlässlichkeit von vertrauten Regeln und Gewohnheiten, keine Stabilität, keine Kontinuität, keine Sicherheit. Angst ist immer auch eine Folge von Ungewissheit und Unsicherheit. Informationen können Angst erzeugen, sie können aber auch Sicherheit vermitteln und unbegründete Sorgen nehmen. In Zeiten, in denen Unsicherheit ‚nur‘ dazu führt, dass große Mengen Toilettenpapier gekauft und Desinfektionsmittel entwendet werden, scheinen die Auswüchse der Angst noch vertretbar. Aber das kann sich in den nächsten Wochen unter verschlechterten Umständen schnell ändern.
Medizinisches Personal soll in Gesundheitskommunikation geschult werden
Alles kommt jetzt darauf an, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, so wie im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz vorgezeichnet. Der Plan erhält jetzt neue Bedeutung, zumal in ihm aufgezeigt wird, wie breit ausholend alle Maßnahmen sein müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen sollen: In den 15 Empfehlungen des Plans wird hervorgehoben, wie wichtig es ist, die persönlichen Fähigkeiten jedes Bürgers und jeder Bürgerin zum kompetenten Umgang mit Information zu verbessern, und damit im Bildungssystem und in den Medien begonnen werden muss.
Zugleich wird darauf hingewiesen, dass verhältnisorientierte Maßnahmen nötig sind, also die alltäglichen Lebenswelten der Menschen einschließlich der Arztpraxen und Krankenhäuser so gestaltet werden, dass sie es einfach machen, Gesundheitskompetenz zu entwickeln. Das ist nur mit einer Schulung des professionellen Personals in guter Gesundheitskommunikation möglich.
Aufklärende Schilder statt Absperrbänder
Den Erwerb von Gesundheitskompetenz zu erleichtern bedeutet zum Beispiel, nicht nur Spielplätze per Plastikband zu sperren (das schon nach einer Stunde zerrissen ist), sondern durch Beschilderung aufzuklären, warum und wozu die Sperre errichtet wurde; in den Parks klar darauf aufmerksam zu machen, dass und warum Abstand von anderen Menschen gehalten werden soll; in Lebensmittelgeschäften vor den Putzregalen Hygieneregeln zu erklären. Und weiter: Wie ist es für kinderreiche Familien, die in einer Wohnsiedlung ohne Balkon wohnen, möglich, für ausreichend Bewegung an der frischen Luft und für Rückzugsräume zu sorgen?
Die Herausforderung ist groß: Wie können alle diese Information so gestaltet werden, dass sie leicht zugänglich aber auch verständlich sind und mehr noch, zur persönlichen Gesundheitserhaltung gezielt genutzt werden können? Immer muss bei der Erstellung von Information die Lage der Adressaten mitgedacht werden. Nur zu glauben, mit der Darstellung richtiger Sachverhalte sei die Information schon nutzerfreundlich und rezipierbar und würde automatisch in richtiges Handeln transferiert – das ist ein Trugschluss.
Blick in die Zukunft: langfristige Aufgaben
Neben den aktuellen Bemühungen um eine wirksame Versorgung mit Informationen während des Ausnahmezustands wird es darauf ankommen, auch langfristig die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen. Es wird nicht ausreichen, die Vorräte an Atemschutzmasken aufzustocken und das ganze Land in Plexiglas einzuhüllen. Es wird darum gehen, kollektive Angst mit Information und Wissen zu bekämpfen und auf diese Weise Vertrauen zurückzuerobern. Es geht darum, dem Virus durch entschiedene Maßnahmen entgegentreten, aber auch dafür Sorge zu tragen, dass Corona kein gesamtgesellschaftliches Trauma hinterlässt.
Die gute Nachricht ist, dass gegen derartige Langzeitfolgen längst eine Reihe von Medikamenten existiert: Information, Aufklärung, Beratung, Kommunikation. In Kombination mit einer hohen Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung, einer gesundheitsförderlichen Umwelt und und einem nutzer-freundlichen Gesundheitssystem können diese "sozialen Medikamente" große Wirksamkeit entfalten.
Der Nationale Aktionsplan zur Förderung der Gesundheitskompetenz listet alle diese Punkte auf und ist damit aktueller denn je. Die Frage, wie sich Gesundheitskompetenz stärken und fördern lässt, wird darüber entscheiden, wie unsere Gesellschaft mit der Pandemie und ihren Folgen umgeht.