Early-Life-Stress durch Corona-Krise?
Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nachhaltig unter den Folgen der Corona-Pandemie leiden werden. Von Early Life Stress ist die Rede. Ob die Veränderungen im Alltag wirklich akute und langfristige Auswirkungen auf Kinder haben werden, fragten wir Prof. Dr. Karl Heinz Brisch. Er ist Kinderpsychiater, Neurologe und Psychotraumatologe in Ulm, war bis April 2020 Vorstand des Lehrstuhls für Early Life Care und leitete das gleichnamige Forschungsinstitut an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Dort begleitet er auch aktuelle Studien und Online-Befragungen zu den psychischen Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und hält Webinare, in denen er Eltern konkrete Tipps gibt.
Herr Professor Dr. Brisch, die Corona-Pandemie hat unser Leben ganz schön verändert. Erst der Lockdown und nun die vielen Einschränkungen im Alltag und immer die Sorge vor einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2. Doch wie wirkt sich die Corona-Pandemie tatsächlich auf Babys und Kleinkinder aus? Manche Psychologen sprechen von Early-Life-Stress und befürchten langfristig negative psychische Folgen bei Kindern. Müssen Eltern sich Sorgen machen?
Frühkindlicher Stress, auf Englisch Early-Life-Stress, kann natürlich ganz viele Ursachen haben, dazu braucht es keine Pandemie. In Studien zeigte sich, dass eine häufige Smartphone-Nutzung der Eltern im Beisein ihrer Kinder Stress-Reaktionen bei den Kleinen verursacht. Mutter und Vater sind dann zwar körperlich anwesend, aber nicht wirklich emotional verfügbar. Auf die aktuelle Lage bezogen gibt es tatsächlich noch keine Daten über die konkrete Stresserfahrung, dafür besteht die Corona-Pandemie noch nicht lange genug. Allerdings sehen wir in Online-Befragungen unseres Instituts deutliche Hinweise auf ein vermehrtes Stresserleben bei Kleinkindern. Eltern berichten, dass ihre Säuglinge momentan schlechter schlafen und trinken, als vor der durch Corona bedingten häuslichen Isolation. Kleinkinder quengeln mehr, vermissen das Spiel mit ihren Freunden, verbringen mehr Zeit mit digitalen Medien, erleben öfter Albträume, verhalten sich ängstlicher und suchen intensiver die Nähe von Mutter und Vater als vor der Corona-Krise. All das können Anzeichen einer erhöhten emotionalen Belastung sein, genau wie häufigere Wutausbrüche mit Brüllen, Treten oder Beißen.
Natürlich können Eltern immer nur das Verhalten ihres Kindes vor Corona, in der Zeit des Lockdowns und jetzt mit den aktuellen Lockerungen vergleichen. Wir können aber keine direkten Aussagen zu Ursachen und Wirkung machen. Verhaltensprobleme, die Säuglinge und Kleinkinder zeigen, könnten natürlich auch dadurch bedingt sein, dass die Eltern in dieser Krisenzeit selbst in einem emotionalen Ausnahmezustand stecken – mit Lockdown, Homeoffice, mögliche Geldsorgen und gleichzeitiger Betreuung ihrer Kinder. Der elterliche Stress überträgt sich auf die Kinder, denn sie spüren genau, ob die Eltern entspannt oder maximal gestresst sind. Über sogenannte "emotionale Ansteckung" schnappen die Kinder dann in Unruhe, Aufregung und auch Ängste ihrer Eltern auf und reagieren selbst auch gestresster.
Halten Sie das für einen kurzfristigen Effekt oder wirkt sich die Coronakrise nachhaltig seelisch und körperlich negativ auf die kindliche Entwicklung aus?
Ich gehe nicht davon aus, dass Kinder, die vor der Corona-Pandemie körperlich und psychisch gesund entwickelt waren, unter langandauernden Folgen leiden werden, die auf Stresserfahrungen zurückzuführen sind. Obwohl uns die Pandemie sicher noch eine Zeitlang begleiten wird, handelt es sich doch um ein – hoffentlich – begrenztes Geschehen. Und Mütter und Väter sind ja zum größten Teil sehr bemüht, sich ausgiebig mit ihren Kindern zu beschäftigen und emotional mit ihnen in Kontakt zu sein. Tatsächlich hat sich in der Vergangenheit in Studien gezeigt, dass monatelange, extreme Stresserfahrungen bei kleinen Kindern eine dauerhafte starke Ausschüttung von Stresshormonen über Jahre hinweg zur Folge haben kann und hierdurch die Gehirnentwicklung und das körperliche Wachstum beeinträchtigt werden können. Dabei handelte es sich aber beispielsweise um Säuglinge und Kleinkinder in Heimen, die der ständigen Erfahrung von extremer Vernachlässigung ausgesetzt waren. Aber, wie schon gesagt, von derlei dauerhaften traumatischen Erlebnissen sind wir aktuell weit entfernt. Hinzu kommt: Alle Menschen weltweit befinden sich in der gleichen Lage. Dieser Zustand ist gemeinsam viel leichter zu akzeptieren als eine isolierte Stresserfahrung in einer einzelnen Familie.
Färbt die angestrengte Verfassung der Erwachsenen möglicherweise ab?
Mit Sicherheit, gerade vor den Lockerungen, als viele Familien sich eingesperrt fühlten, war die Anspannung der Eltern extrem hoch. Dieser psychische Zustand überträgt sich innerhalb der Familie. Die Stressfaktoren sind ja vielfältig: Sorgen um den Arbeitsplatz und die Finanzen, Partnerschafts- und Erziehungsprobleme, man sitzt immerzu dicht aufeinander, länger als in jedem Urlaub. Babys und Kleinkinder brauchen dann ihre Eltern, um Anspannungen zu regulieren, das schaffen sie noch nicht alleine. Mama oder Papa müssen beruhigen, trösten, entspannen, auf das jeweilige Bedürfnis des Kindes angemessen eingehen. Stehen die Großen aber selbst unter Strom, sind sie nicht so feinfühlig wie sonst und beschäftigen sich vor allem mit ihrer eigenen Selbstregulation. So stellt sich ein Zustand der Unausgeglichenheit ein, der sich immer weiter hochschaukelt.
Experten befürchten, dass wir erst in einigen Monaten sehen werden, wie sehr Kinder auch durch Ausbrüche von verschiedenen Formen der Gewalt in ihren Familien gefährdet waren, und niemand zur Hilfe kommen konnte, da niemand darauf aufmerksam wurde.

Prof. Dr. Karl Heinz Brisch ist Vorstand des Lehrstuhls für "Early Life Care" und leitet das gleichnamige Institut an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg. Er forscht im Bereich frühkindliche Entwicklung und Traumatherapie.
Wie durchbricht man diese Dynamik?
Im Idealfall hilft es, wenn die Partner abwechselnd immer mal die Gelegenheit zum Durchatmen im Alleingang bekommen, etwa beim Sport oder beim Spazierengehen, während der andere die Betreuung übernimmt. Bewegung ist generell für viele Menschen ein gutes Rezept, um Stress abzubauen. Denn die ausgeschütteten Stresshormone Cortisol und Adrenalin versetzen uns in einen Alarmzustand, sollen evolutionsbedingt alle Reserven für Kampf oder Flucht mobilisieren und versetzen gerade Kinder in körperliche Unruhe. Daher können die Kleinen in diesen Zeiten gar nicht genug hüpfen, toben oder Radfahren. Im Spiel mal laut werden ist auch völlig okay, manchmal müssen Belastungen richtiggehend rausgebrüllt werden. Bei Babys hilft beruhigendes Singen, viel Herumtragen und Kuscheln. Allerdings fällt Eltern das Beruhigen immer schwerer, je gestresster sie selbst sind. Wer gar nicht mehr entspannen kann, sollte sich unbedingt Hilfe holen.
Trotzdem wirkt es teilweise so, als würden die Kleinen durch Klammern und schlechten Schlaf eher Rück- als Fortschritte machen. Wie kann man sie jetzt unterstützen?
Die Kleinen holen sich genau das, was sie brauchen, das hat die Natur perfekt eingerichtet. Die Eltern sind jetzt das Rettungsboot auf hoher See. So kann es passieren, dass Babys und kleine Kinder mehr Körperkontakt einfordern als üblich. Kinder, die eigentlich schon im eigenen Bett schliefen, schlüpfen nun wieder jede Nacht ins Elternbett. Andere wollen nicht mehr alleine im Zimmer spielen, sondern kleben ständig an Mama oder Papa, womöglich neben dem Computer am Homeoffice-Arbeitsplatz. Auf Dauer kann das sehr nervend und anstrengend sein. Doch Eltern sind gut beraten, wenn sie ihren Kindern – so gut sie können – diese Nähe geben. Sie sollten nach Möglichkeit auch auch eine gleichmäßige Tagesstruktur schaffen, die zur neuen Situation passt. Wer Arbeits-, Essens-, Schlaf-, Bewegungs- und Spielzeiten möglichst genau plant und die Vorgaben dann auch durchzieht, hilft sich selbst und auch seinen Kindern. Mit der zeitlichen und inhaltlichen Orientierung sorgen Eltern für äußere und auch innere, emotionale Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Und was, wenn nur noch Fernseher oder Computer als "Beruhigungsmittel" helfen, etwa, weil ein wichtiger Videocall ansteht?
Dann ist das auch kein Beinbruch. Seien Sie großzügig mit sich in dieser Ausnahmesituation. Bevor man Stress mit dem Vorgesetzten bekommt oder das Kind unkontrolliert anbrüllt oder ins Zimmer sperrt, ist ein altersgerechtes Computerspiel oder eine TV-Serie aktuell sicher die bessere Lösung. Vielleicht gehen Sie danach gemeinsam eine Runde an die frische Luft und lassen das Kind in Ruhe erzählen, was es gerade gesehen oder gespielt hat. War das sehr spannend, hat das Spaß gemacht, gab es etwas, das dir Angst gemacht hat? So geben Eltern ihrem Kind die Gelegenheit, die Eindrücke zu sortieren, abzugleichen und ihre Gefühle zu verarbeiten.
Sollten Eltern mit drei-, vierjährigen Kindern – natürlich altersgerecht – auch über die eigenen Sorgen und Ängste in Bezug auf die Pandemie sprechen? Oder wühlt sie das nur zusätzlich auf?
Da Eltern ihre eigene Anspannung und Angst vor Kindern sowieso nicht komplett verbergen können, finde ich es angemessen, Befürchtungen zu thematisieren und gleichzeitig Schutzmaßnahmen zu besprechen. Also kann man beispielsweise sagen: "Beim Fahrradfahren setzen wir ja auch einen Helm auf, um Verletzungen am Kopf zu verhindern, falls wir stürzen. Und um uns vor dem Coronavirus zu schützen, helfen Händewaschen, Abstand halten und das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Ich zeige es dir, und wir üben zusammen, wie das geht." Andere Sorgen dagegen, wie etwa finanzielle Probleme oder Angst um den Arbeitsplatz, sollten Erwachsene unter sich besprechen, weil Kinder ihnen hier nicht helfen können.
Zuversicht trotz Angst ausstrahlen, kann das gelingen?
Ich denke, jeder Erwachsene muss für sich die richtige Strategie finden, um Ängste im Zaum zu halten – sei es, durch umfassende Information und Beachten der empfohlenen Maßnahmen oder auch durch zeitweiliges Verdrängen und Ablenken. Sobald ich das Gefühl habe, die Situation einigermaßen kontrollieren zu können, kann ich auch glaubhaft Zuversicht vermitteln. Was gar nicht funktioniert: Zweideutige Signale senden und bestehende Ängste verleugnen. Also etwa sagen ‚Das ist alles gar nicht schlimm und du brauchst keine Angst haben‘, während man aber gleichzeitig betont: ‚Wenn Oma und Opa krank werden, können sie sterben‘. Diese sogenannten Doppelbotschaften der Eltern verunsichern Kinder und lösen erst recht Ängste aus. Jetzt werden die Kinder der eigenen Wahrnehmung nicht mehr so blind trauen.
Angenommen, schon vor der Coronapandemie waren Ängste für Eltern ein Thema. Wirkt dann die aktuelle Krise nicht wie ein Beschleuniger?
Es ist schon vorstellbar, dass Menschen mit einer ängstlichen Grundhaltung nun noch vorsichtiger und unsicherer handeln. Auch übertriebene Hygienemaßnahmen, wie zwanghaftes Desinfizieren, können in den ungesunden Bereich rutschen, gerade, wenn Kinder schon früher nicht im Matsch spielen durften oder die Eltern bei jeder kleinen Kostprobe Sand auf dem Spielplatz in Panik gerieten. Da ist eine durch Corona verschärfte überängstliche Dynamik durchaus möglich. Hier ist es sinnvoll, wenn sich Eltern rasch eine entsprechende Begleitung, Beratung oder therapeutische Hilfe holen.