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Wer seelisch von der Corona-Pandemie betroffen ist, kann verschiedene Hilfsangebote beanspruchen: Ein bekanntes ist zum Beispiel die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen 0800er-Nummer ist der Dienst jeden Tag für Nutzerinnen und Nutzer erreichbar. 2020 zählte die Telefonseelsorge mehr als eine Million Anrufe. Mehr zu verschiedenen Hilfsangeboten finden Sie hier.

Ein spezifischeres Angebot bietet das Corona-Seelsorgetelefon. 2020 ist der Dienst auf Initiative verschiedener seelsorgerischer Dienste gestartet. Unter der 030 403 665 885 ist das Angebot deutschlandweit jeden Tag von 8 bis 24 Uhr erreichbar.

Das Projekt wird aus Mitteln des Berliner Senats finanziert, 70 Ehrenamtliche arbeiten dafür. Projektkoordinatorin Cathy Clift und Seelsorgerin Margit Niehoff berichten im Interview mit der Apotheken Umschau, wie die Arbeit des Corona-Seelsorgetelefons abläuft, dass es immer wieder Probleme mit Corona-Leugnern gibt und warum das Angebot auch nach der Pandemie wichtig sein wird.

Frau Clift, Frau Niehoff, die Corona-Pandemie läuft bereits seit zwei Jahren. So mancher meint, das Thema wäre nun bald durch. Ruft beim Corona-Seelsorgetelefon überhaupt noch jemand an?

Cathy Clift: Ja, denn unser Angebot spricht ja nicht nur Menschen an, die direkt von Corona betroffen sind. Krisen – wie eine weltweite Pandemie – haben Auswirkungen in vielen Bereichen des Lebens. Derzeit führen wir zwischen 25 und 35 Gespräche am Tag. Seit unser Angebot gestartet ist, haben wir mehr als 9.000 Anrufe gehabt.

Warum sollte man denn überhaupt bei Ihnen anrufen statt bei der Telefonseelsorge? Die haben auch eine kostenlose 0800er-Nummer.

Clift: Wir verstehen uns nicht als Konkurrenz zur Telefonseelsorge, im Gegenteil: Wir arbeiten organisatorisch und inhaltlich eng zusammen. Das Anrufaufkommen bei der Telefonseelsorge steigt gerade in Krisenzeiten stark an. Es kann vorkommen, dass Anrufende nicht sofort durchkommen, wir springen da mit unserem Angebot mit ein. Was uns zudem auszeichnet, ist unser Schwerpunkt auf Corona. Dadurch, dass wir alle mehr oder weniger davon betroffen sind oder waren, müssen wir uns auch immer wieder mit dem Thema auseinandersetzen. Gerade in der Anfangsphase, zu Zeiten des ersten Lockdowns, als noch niemand recht wusste, wohin sich die Pandemie entwickelt, war es ein Muss, dass wir uns informieren und bilden – zum Beispiel indem wir jeden Morgen die RKI-Konferenz anschauten.

Wie läuft es ab, wenn jemand anruft?

Clift: Jedes Gespräch beginnt damit, dass wir einen Raum öffnen. Dass man vor allem Zeit gibt und sagt: Ich bin jetzt für Sie da, nehme mir Zeit und höre zu. Das Gespräch ähnelt eher einem Nebeneinanderherlaufen: Die Anrufenden erklären uns ihre Welt und dort auch die Probleme und Baustellen. Wichtig ist dabei, dass wir eine Art Schweigepflicht haben. Was man uns sagt, bleibt immer vertraulich. Und: Bei uns kann jeder anrufen, egal welchen Glaubens oder welcher Herkunft.

Margit Niehoff: Einsamkeit, finanzielle Sorgen, häusliche Gewalt -– die Probleme haben sich im Laufe der Pandemie verstärkt. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Tod, mit der Endlichkeit. Auch hat sich die Angst vor dem einsamen Sterben verstärkt. Einige sehen sich mit neuen Ängsten konfrontiert, die vor der Pandemie erfolgreich verdrängt wurden. Sie befinden sich in einem Tunnel, aus dem sie kaum allein wieder herauskommen. Wir möchten die Menschen begleiten, ihnen Mut machen, einen anderen Blick zu wagen.

Also geben Sie Betroffenen auch Tipps?

Clift: Nein, dass ist nicht vorrangiges Ziel einer Seelsorge. Wir sind nicht dazu da, Lösungen zu finden, sondern, um zuzuhören. Alles andere wäre oberlehrerhaft und – mit Verlaub gesagt – auch vermessen. Wir sagen Dinge wie: Ich höre Dir zu, ich gebe Dir Zeit und ich versuche zu verstehen, was Du meinst. Die Anrufenden müssen selbst auf die für sie passende Lösung kommen. Wir können dabei nur begleiten. Für so eine Arbeit braucht man auch etwas Fingerspitzengefühl.

Wie lernt man so ein Fingerspitzengefühl?

Clift: Das Team des Corona-Seelsorgetelefons setzt sich aus Ehrenamtlichen dreier seelsorgerischer Bereiche zusammen: Frau Niehoff kommt zum Beispiel von der Notfallseelsorge, wieder andere von der Krankenhaus-Seelsorge und etwa zwei Drittel unserer Ehrenamtlichen arbeiten auch für die Kirchliche Telefonseelsorge. Alle haben bei einer dieser Institutionen eine Ausbildung durchlaufen. Das ist eine Bedingung für die Mitarbeit. Die Ausbildungen sind sehr intensiv und eigene Erfahrungen und Erlebnissen, auch Krisen der Auszubildenden bilden dabei die Basis. Die Idee dahinter ist, dass man die eigenen Lebenskrisen oder -themen kennt, versteht und in der Ausbildung die Erfahrung macht, dass es hilft, die Dinge an- und auszusprechen. Nur so kann man später am Telefon auch Gefühle der Gesprächspartner besser verstehen.

Niehoff: Die Ausbildung ist sehr umfangreich. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist ein wesentlicher Bestandteil. Welche Schicksalsschläge man selbst durchgemacht hat und wie der Umgang damit gelingen konnte, sind ein wichtiger Aspekt und können einen Blick auf das eigene Leben zeigen.

Kann jeder für das Corona-Seelsorgetelefon arbeiten?

Niehoff: Wir schauen nicht auf Titel oder den Beruf: Für uns ist der Blick auf den ganzen Menschen wesentlicher Bestandteil. Verfügen die Bewerber über Empathiefähigkeit, sind sie belastbar? Wollen sie den Anrufenden erklären, wie die Welt funktioniert, oder was sie zu tun und zu lassen haben, erscheinen sie wenig geeignet.

Clift: Unser Chef sagte mal: Der beste Seelsorger ist mindestens einmal geschieden. Bei uns kann sich jeder bewerben. Wir prüfen in einem Auswahlverfahren, ob sich die Menschen eignen. Die Leute müssen stabil und offen sein und eine gewisse Neugier besitzen. Als Ehrenamtliche bekommen wir keine Bezahlung für unsere Arbeit – außer, dass wir Geschichten hören und Menschen kennenlernen.

Was für Geschichten erzählen die Menschen?

Clift: Das ist unterschiedlich. Ein Viertel der Gespräche führen wir mit Menschen, die direkt von der Pandemie betroffen sind. Die haben sich infiziert, sind in Quarantäne, sorgen sich um Angehörige oder betrauern den Verlust geliebter Menschen. Andere Anrufende wollen sich zu Corona und aktuellen Maßnahmen informieren. Und es melden sich auch Leute mit Angststörungen, finanziellen oder beruflichen Sorgen und welche in familiären Konflikten – also seelsorgerische Gespräche, wie wir sie auch von der Telefonseelsorge kennen.

Haben Sie ein Beispiel?

Clift: Wir hatten zum Beispiel eine Anruferin, die sich Sorgen um ihren dementen, schwerkranken Vater gemacht hat und der wegen Corona ins Krankenhaus musste. Sie fragte sich, ob sie ihn ihm Krankenhaus besuchen sollte oder nicht. Einmal hat eine Lehrerin angerufen: Ein Kind in ihrer Klasse hatte Corona und sie hatte entsetzliche Angst, sich angesteckt zu haben. Eine andere Anruferin hatte schon Corona, aber fühlt sich einsam und leidet unter Panikattacken, Schwindel und manchmal auch Atemnot. Wir hatten aber auch schon Anrufe von Corona-Leugnern oder Impfgegnern gehabt.

Corona-Leugner rufen bei Ihnen an?

Clift: Ja, so etwa zwei- bis dreimal am Tag, mit einer derzeit rückläufigen Tendenz. Besonders zu Zeiten der Montagsspaziergänge gab es des Öfteren solche Anrufe. Man muss aber sagen, dass nicht alle Anrufer uns provozieren oder missionieren wollen. Wir haben auch Anrufe von Impfgegnern, die unter den Maßnahmen gelitten haben. Das Gefühl „nicht gewollt zu sein“, ist ein schwer aushaltbares Gefühl, manchmal gelingt es uns, mit diesen Leuten auf dieser Ebene des persönlichen Erlebens zu sprechen.

Und was sagen die Corona-Leugner?

Clift: Das was man so kennt, dass Corona eine Lüge ist und, dass wir mit der Angst der Menschen Geld machen würden. Dabei arbeiten wir alle ehrenamtlich, verdienen nichts und versuchen die Ängste zu nehmen.

Niehoff: Viele werden im Grunde richtig wütend und beschimpfen uns.

Was tun Sie bei solchen Anrufen?

Niehoff: Da hat jeder seine eigene Strategie. Zu Beginn höre ich einfach nur zu, denn eine festgefahrene Meinung zu ändern, ist nicht möglich und auch nicht meine Aufgabe. Wenn jemand sehr ausfallend wird, habe ich auch die Möglichkeit, das Gespräch zu beenden.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie wegen so etwas angeschrien werden?

Niehoff: Es macht schon etwas mit einem, am Telefon angeschrien zu werden, aber es ist etwas anderes, als wenn ein Mensch einem persönlich gegenüber steht. Das Telefon bietet einen gewissen Schutz.

Clift: Die Anonymität schützt nicht nur Anrufende, sondern auch uns. Wir sind nur eine Stimme, man kann uns nicht googeln oder sich an uns „rächen“. Und wenn es wirklich jemanden trifft, haben wir auch eine Supervision mit ausgebildeten Expertinnen und Experten. Oder man kann sich in der Supervision mit den Kolleginnen und Kollegen über das Erlebte austauschen.

Gab es auch positive Rückmeldungen von Anrufenden?

Clift: Manche Menschen begleiten wir länger, über eine Lebenssituation. Zum Beispiel hatten wir lange Zeit Kontakt zu einer jungen Frau, deren Mutter schwer an Corona erkrankt war und leider daran verstorben ist. Sie rief uns über drei, vier Monate regelmäßig an. Zum Jahresende erreichte uns schließlich ein Dankesbrief, über den wir uns sehr gefreut haben.

Gab es auch Fälle, wo sie überhaupt nicht helfen können?

Clift: Diese Pandemie bringt es auch mit sich, dass nicht alle psychosozialen Versorgungssysteme greifen. Anrufende mit psychischen Erkrankungen, die gerade nicht zu ihren Ärzten oder in eine Tagesgruppe gehen können, die vielleicht vergessen, ihre Medikamente zu nehmen und weiteres. Uns rief neulich ein Mann 18 Mal hintereinander an, der hatte Wahnvorstellungen. Irgendwann konnte unsere diensttuende Kollegin dann nicht mehr und wir haben den Krisendienst informiert. So etwas kommt aber selten vor.

Niehoff: Wir dürfen nicht der Illusion unterliegen, dass wir alle Probleme lösen können. Wir sind Impulsgeber. Wir informieren über andere Hilfsangebote und geben Telefonnummern weiter. Wir sind eine erste Anlaufstelle und müssen unsere eigenen Grenzen kennen. Oftmals bringen wir nur ein wenig Licht in die sehr klein gewordene Welt der Menschen.

Wird man das Corona-Seelsorgetelefon denn in Zukunft noch brauchen?

Clift: Wir bekommen Mittel aus Zuwendungen des Berliner Senats „zur psychosozialen Versorgung der Stadt in und nach der Pandemie“. Also da gibt es schon auch eine gewisse Sorge in der Politik, dass auch nach Abklingen der eigentlichen Pandemie weiterhin Probleme auftreten.

Niehoff: Wir sind uns sicher, dass unsere Arbeit noch lange benötigt wird. Es ist wie nach einer Krebserkrankung. Selbst wenn die körperliche Behandlung, Operation, Chemotherapie und Bestrahlung abgeschlossen sind, ist das Leben nicht mehr dasselbe wie vor der Erkrankung. Es ist aus den Grundfesten gehoben und erst ganz langsam beginnt man damit, das alles zu verarbeiten. Bei der Pandemie ist es ähnlich. Die Verarbeitung braucht unsere Begleitung.

Frau Clift, Frau Niehoff, vielen Dank für das Gespräch.