Baby und Familie

Steht in der Kita ein Event an, spürt man schon Tage oder gar Wochen vorher die Aufregung der Kinder. Jeder fiebert dem großen Tag entgegen. "Nur in diesem Jahr fällt alles wegen Corona aus", bedauert Kita-Leiterin Gaby Virnkaes.

Im Sommer finde immer das beliebte Kartoffelfeuer mit Lagerfeuer, Indianergeschichte und Übernachtung im Kindergarten statt – ohne Eltern. "Die Kinder, und auch wir, sind unendlich traurig, dass unser Fest in diesem Jahr ins Wasser fällt", sagt Virnkaes.

Wie in der Kita in Lorsch verzichten wohl deutschlandweit alle Einrichtungen auf die alljährlichen Highlights, wie etwa Pyjama-Partys mit Übernachtung im Turnraum, Abschiedssommerfeste für die künftigen Erstklässler oder spannende Wandertage. Daran ändern auch die Lockerungen nichts, denn die strengen Hygiene- und Abstandsregeln lassen keinen Normalbetrieb wie vor Ausbruch der Pandemie zu. Vor allem, weil manche Feste und Rituale mit Verspätung gar nicht nachzuholen sind.

Rituale fehlen der ganzen Familie

So manches Fest und Ritual lässt sich nicht einmal mit Verspätung nachholen – etwa der Abschied der Vorschulkinder. Fast 700.000 Kinder in Deutschland werden ihren Abschied vom Kindergarten sang- und klanglos erleben. Auch meine sechsjährige Tochter gehört dazu. Ihre große Schwester schaukelten mein Mann und ich vor einigen Jahren in einem tränenreichen, aber wunderschönen Ritual in einer Hängematte aus ihrer Kindergartenzeit hinaus, begleitet von den Erzieherinnen.

In Lorsch werden die Kinder im Rahmen eines Gottesdienstes verabschiedet. "Die Erzieherinnen überlegen sich jedes Jahr eine Art Übergangsritual. Mal gehen sie zusammen mit den Kinder symbolisch durch eine Tür oder steigen eine Leiter hinauf. Danach feiern wir im Kindergarten ein Gartenfest mit Spielen und Snacks", erzählt die Kita-Leiterin.

Dr. Franziska Cohen vom Lehrstuhl für Elementar- und Familienpädagogik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Dr. Franziska Cohen vom Lehrstuhl für Elementar- und Familienpädagogik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg

"Dass solche Übergangsrituale jetzt wegbrechen, ist für die ganze Familie schmerzlich", bestätigt Dr. Franziska Cohen vom Lehrstuhl für Elementar- und Familienpädagogik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Sie ist Mit-Autorin einer aktuellen Studie zu den Auswirkungen der aktuellen Kita-Schließungen auf das Familienleben.

"Solche Feste vermitteln ein Gefühl von Zugehörigkeit und durch den chronologischen Ablauf übers Jahr zusätzlich ein Verständnis von Zeit. Vor allem die Verabschiedung der angehenden Schulkinder bedeutet auch für die Eltern einen wichtigen Einschnitt: Sie lassen gemeinsam mit dem Kind bekannte Strukturen, vertraute Bezugspersonen und die Phase des Kleinkindalters hinter sich", erklärt Cohen.

Trotzdem Anlässe zum Feiern finden

Trotz der Einschränkungen arbeiten viele Kindertagesstätten an Alternativlösungen. In der Evangelischen Kindertagesstätte Lorsch sind zum Beispiel kleine Filme und Fotoalben als Abschiedsgeschenk für die Vorschulkinder im Gespräch. Und Geburtstagskinder finden weiterhin einen Gruß und ein kleines Geschenk der Kita im Briefkasten. "Und zum Termin des abgesagten Kartoffelfeuerfest bringen wir allen Familien symbolisch ein Papiertütchen vorbei, gefüllt mit einer Kartoffel, einer Wunderkerze, ein Foto der Erzieherinnen, eine Indianergeschichte zum Vorlesen, eine Grußkarte und die Lieblingssüßigkeit des jeweiligen Kindes", berichtet Gaby Vinkaes.

Solche Ersatzrituale sind wichtig, weiß Franziska Cohen, weil sie weiterhin Beständigkeit und Zugehörigkeit vermitteln. "Diese kleinen Gesten haben eine große Wirkung. Sie bauen Spannungen ab und fördern den Zusammenhalt. Das gibt den Familien wieder Kraft, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern, denn die fehlenden Strukturen und stark reduzierten sozialen Kontakt können auch das Konfliktpotenzial in den Familien erhöhen", sagt die Pädagogin.

Vorübergehender Verzicht ist gut zu verkraften

Den Kontakt halten, Interesse signalisieren: Das hält Franziska Cohen für die wichtigste Maßnahme, die den fehlenden Sozialkontakt überbrücken kann. "In unserer aktuellen Studie zeigte sich, dass ein Großteil der Kitas sich zumindest einmal bei den Familien gemeldet hat. Besonders hilfreich ist es, wenn dieser Kontakt über rein inhaltliche Informationen zur Sachlage hinausgeht, zum Beispiel in Form von Beschäftigungsideen. Digitale Morgenkreise, Lese- oder Erzählrunden oder virtuelle Plattformen, die die Kinder mit Fotos bestücken können, bieten gute Möglichkeiten des Austauschs."

Doch wenn ich meine Sechsjährige so sehe, frage ich mich schon: Können all diese Notlösungen wirklich verhindern, dass die Kinder langfristig unter der Situation leiden? Dr. Christiane Wempe, Entwicklungspsychologin und Kinderpsychotherapeutin aus Ludwigshafen, kann beruhigen: "Natürlich vermissen Kinder die gewohnten sozialen Kontakte. Ein Trauma muss aber niemand befürchten, man kann die Lage eher mit einem Verzicht vergleichen, wie er bei einer langen Krankheit auftreten würde." Die Expertin hält es für entscheidend, Kindern zu vermitteln, dass die Phase vorübergeht und sie mit ihrem Erleben nicht alleine sind. "Häusliche Rituale wie geregelte Mahlzeiten, Spiele und Spaziergänge sind jetzt besonders wichtig, sie geben weiterhin Struktur", sagt Christiane Wempe.

Behutsamer Weg zurück

Genießen kann man momentan ja wenigstens die Vorfreude. "Wenn ich endlich wieder …" Dieser Satz fällt bei uns  besonders oft. Doch bei aller Erleichterung über den Vierstufen-Plan zur Wiedereröffnung der Kitas, kommt eine neue Herausforderung auf die Erzieher und Erzieherinnen zu. "Wir stellen uns darauf ein, gerade kleinere Kinder ganz neu eingewöhnen zu müssen. Ich glaube, man sollte dann den Kita-Alltag nicht gleich überfrachten und sofort ganz viel nachholen wollen", sagt die Lorscher Kita-Leiterin Gaby Virnkaes.

Beobachten, gut zuhören, schauen, was die Kinder nach dieser Krise eigentlich brauchen – wenn alle die Entschleunigung der letzten Wochen beibehalten, sollte auch dieser Übergang gut gelingen.