Oberschenkelhalsbruch: Zurück ins Leben
Ein Schritt in die falsche Richtung reicht: auf die Zeitschrift, die auf den Boden geflattert ist, über die Schuhe, die man aus Hektik mitten im Flur abgestellt hat. Und schon ist es passiert. Die meisten Älteren fallen in den eigenen vier Wänden "und aus wirklich banalen Gründen", weiß Professor Clemens Becker, Leiter der Klinik für Geriatrische Rehabilitation am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, aus Erfahrung. Der Sturz hat oft schlimme Folgen. Jeder zehnte Senior zieht sich dabei schwere Verletzungen zu. 130.000 Mal pro Jahr diagnostizieren Ärzte einen hüftnahen Bruch des Oberschenkelknochens – am häufigsten bei über 80-Jährigen.
Aussichten auf Heilung haben sich verbessert
Die größte Angst der Gestürzten ist es, nach dem Unfall nie wieder auf die Beine zu kommen und pflegebedürftig zu werden. Das muss nicht sein, macht Altersmediziner Becker Mut: "80 Prozent der Patienten gehen heute nach der Behandlung wieder nach Hause." Die Chancen, den Alltag auch nach dem Sturz selbstständig zu meistern, stehen besser denn je: Schonende Operationsverfahren und passgenaue Prothesen sowie eine altersspezifische Reha machen es möglich.
Weshalb der Oberschenkel überhaupt so häufig in der Nähe der Hüfte birst, haben Wissenschaftler mithilfe von Filmaufnahmen herausgefunden: Die meisten Senioren fallen nach hinten, drehen sich dabei instinktiv zur Seite, um zu vermeiden, dass der Kopf auf dem Boden aufschlägt – und landen auf der Hüfte.
Osteoporose und Muskelschwund fördern Brüche
Zu wenig Muskel- und Fettgewebe an den Hüften tun ein Übriges. Auch eine Osteoporose lässt Knochen leicht splittern. "Bei etwa der Hälfte der Betroffenen stellen wir während der Operation eine Osteoporose fest", berichtet Professor Florian Krug, Unfallchirurg und Alterstraumatologe an der Schön Klinik in Hamburg. Viele Patienten würden so überhaupt erst von ihrer Knochenkrankheit erfahren.
Jüngere fangen Stolperer meist gut ab, machen einen Ausfallschritt oder stützen sich beim Fallen geschickt mit einem Arm ab. Das erfordert Fertigkeiten wie Balance, Kraft und Reaktionsschnelligkeit, aber auch gutes Sehen. Mit dem Alter schwinden diese Fähigkeiten zunehmend. Und Krankheiten wie Schwindel, Parkinson, grauer Star oder Herzrhythmusstörungen verschärfen die gewisse Trittunsicherheit noch.
Bei Oberschenkelhalsbruch ist schnelle OP wichtig
Wer solch einen Unfall beobachtet, sollte sofort den Notarzt rufen: Bei einem Bruch des Schenkelhalses erscheint das betroffene Bein typischerweise kürzer als das andere und ist nach außen verdreht. Vor Schmerzen kann sich der Gestürzte nicht mehr bewegen.
Kommt der Patient in die Klinik, geht alles sehr schnell. "Einen Bruch des hüftnahen Oberschenkels operieren wir heute in der Regel innerhalb von 24 Stunden", berichtet der Hamburger Unfallchirurg, "um gefährliche Komplikationen durch langes Liegen wie etwa Lungenentzündungen oder Thrombosen zu vermeiden."
Auf Altersleiden spezialisierte Kliniken
Doch auch wenn die Zeit drängt, sollten sich Betroffene und ihre Angehörigen vorab erkundigen, "ob die betreffende Klinik auf Altersleiden spezialisiert ist", rät Operateur Krug. Falls nicht, sollte man nachfragen, ob es möglich ist, sich in eine solche Klinik verlegen zu lassen – sofern die Krankenkasse zustimmt.
In alterstraumatologischen Abteilungen arbeiten Chirurgen eng mit Geriatern, Internisten und Narkoseärzten zusammen. "Selbst Hochaltrige mit zahlreichen Begleiterkrankungen können wir gut operieren", verspricht Krug. Durch eine abgestimmte Medikation lassen sich zudem häufig auftretende und altersabhängige Risiken, wie etwa eine vorübergehende Verwirrtheit, minimieren.
Künstliches Gelenk: Genau informieren
Die Mehrzahl der Patienten ab 65 erhält ein künstliches Gelenk. Aus zwei Gründen: Der Versuch, einen Oberschenkelhalsbruch bei Senioren minimalinvasiv mithilfe von Schrauben wie bei Jüngeren zu fixieren, hat wenig Erfolg, belegen Studien. "Viele Senioren mussten erneut operiert werden, weil die Verletzung nicht wunschgemäß verheilte", berichtet Krug. "Sie waren monatelang immobil und hatten Schmerzen." Vor allem helfe der Einsatz einer Prothese, rascher wieder auf die Beine zu kommen.
Betroffene sollten sich beim Operateur jedoch über die geplante Methode, ihre Vor- und Nachteile gut aufklären lassen. Nur den Hüftkopf ersetzen? Oder lieber eine Totalendoprothese, bei der auch die Gelenkpfanne ausgetauscht wird? Besser mit Zement oder ohne? "Bei Hochaltrigen entscheiden wir uns in der Regel für das Einzementieren", berichtet Krug aus seinem OP-Alltag. "So hat der Patient eine große Chance, dass die Prothese ein Leben lang hält."
Physiotherapie unterstützt die Heilung
In guten Kliniken kommt bereits am Tag nach dem Eingriff ein Physiotherapeut ans Bett – für krankengymnastische Übungen wie Aufstehen, erste Schritte, Kräftigung des gesunden Beins. Doch auch wenn Gehen rasch wieder möglich ist: "Viele sind nach einem Sturz stark verängstigt", weiß Geriater Becker. Daher setzen Mediziner parallel auf mentales Training, um bestehende Angstgefühle abzubauen. Etwa so: Der Patient liegt im Bett und stellt sich gedanklich vor, auf seinem Lieblingsweg spazieren zu gehen.
Intensive und zielgerichtete Reha
Nach zwei Wochen Klinik folgt meistens eine stationäre Rehabilitation. Experten für Geriatrische Rehabilitation raten, unbedingt eine Einrichtung auszuwählen, die auf ältere Patienten spezialisiert ist. Frauen und Männer über 70 sollten in ihrem Interesse kämpfen und gezielt nach einer geriatrischen Rehabilitation fragen. Senioren benötigten nach einem Oberschenkelhalsbruch eine viel intensivere Betreuung als etwa ein 50-Jähriger, der wegen einer Arthrose ein neues Gelenk erhält, aber ansonsten fit ist.
Was eine geriatrische Reha ausmacht? Kurze Wege, Räume ohne Barrieren, die Therapeuten holen die Patienten vom Zimmer ab oder behandeln gleich dort. Und ein speziell auf Senioren abgestimmtes Training: Um etwa die dynamische Balance in den Fußgelenken zu stärken, stellen sich Patienten auf ein waageartiges Gerät. Dessen Fläche neigt sich, und der Trainierende muss winzige Ausgleichbewegungen ausführen.
Durch kleine Schritte zum Erfolg
Tägliche Arztvisiten sind selbstverständlich. Je nachdem, unter welchen Begleiterkrankungen ein Patient leidet, werden weitere Spezialisten – etwa ein Diabetologe oder Kardiologe – in die Therapie einbezogen. Jeder Patient erhält nach einer gründlichen Anamnese einen ganz individuellen Therapieplan.
Ziel dieses Bündels an Maßnahmen ist es, den Betroffenen mindestens so fit zu bekommen wie vor seinem Sturz. Dazu bedarf es vieler kleiner Schritte. Waschen, anziehen: Die Pflegekräfte helfen bei Alltagstätigkeiten, "ermuntern jedoch die Patienten, diese nach und nach selbst zu übernehmen", betont der Reha-Fachmann. Sogar eine Übungsküche gibt es, in der Patienten zum Beispiel trainieren, ein volles Tablett zum Esstisch zu tragen.
Stürzen vorbeugen
Selbst wenn alles optimal läuft: Ein kleiner Teil der Patienten bleibt nach einem Schenkelhalsbruch auf Pflege angewiesen. Umso mehr sollten Senioren versuchen, einem möglichen Sturz konsequent vorzubeugen. Ob loses Telefonkabel oder hohe Teppichkante: Wichtig ist, typische Stolperfallen in der Wohnung wegzuräumen. "Ein erster Schritt, der absolut notwendig ist, allein aber zu wenig bringt", mahnt Becker eine ganze Reihe von weiteren Punkten an.
Dazu gehört die optimale Behandlung von Erkrankungen wie Osteoporose oder Herz-Kreislauf-Leiden. Der Hausarzt ist hierfür der richtige Ansprechpartner. Wer täglich Pillen schluckt, sollte außerdem seinen Apotheker bitten, einen Blick auf die Medikation zu werfen. Manche Präparate erhöhen das Sturzrisiko. Bei problematischen Wirkstoffen wird der Apotheker den Hausarzt kontaktieren. In einigen Fällen hilft es schon, den Einnahmezeitpunkt zu verschieben.
Kalzium für die Knochen?
Immer mehr Apotheker sind auch Profis in Fragen der Ernährung: So kann eine vitamin- und kalziumreiche Kost die Knochen stärken. Die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlene Menge von 1000 mg Kalzium pro Tag erreicht man bereits mit einem Joghurt plus zwei Scheiben Käse. Wie genug Kalzium zählt auch genug Bewegung zum Vorbeugepaket. Bereits zwei bis drei Stunden kräftigende Gymnastik und Tanzschritte pro Woche helfen, das Risiko für Oberschenkelhalsbrüche deutlich zu senken, hat eine Studie mit 20.000 Teilnehmern in Bayern gezeigt.
Nicht zuletzt nützen kleine Hilfsmittel im Alltag. Sturzgefährdeten rät Becker zum Tragen einer Hüftschutzhose. Mit einem Toilettenstuhl, den man sich nah ans Bett stellt, vermeiden Ältere den nächtlichen Gang zur Toilette, der besonders unfallträchtig ist. Ein Sturz im Bad, und niemand ist da, um Hilfe zu holen? Ein Horrorszenario, dem jeder durch das Installieren eines Hausnotrufs vorbeugen kann. Im Ernstfall reicht es, einen Knopf zu drücken, den man etwa am Handgelenk trägt – und Hilfe ist unterwegs.