Lässt sich Typ-1-Diabetes ausbremsen?

Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler ist Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum München
© W&B/Dominik Gigler
Sie arbeiten mit Ihrem Team an einer Art Impfung gegen Typ-1-Diabetes. Was ist die Idee dahinter?
Bei Typ-1-Diabetes zerstört das Immunsystem des Körpers die insulinproduzierenden Zellen. So als wären es Eindringlinge wie Bakterien oder Viren. Was diese Autoimmunreaktion auslöst, ist noch nicht völlig geklärt. Wir wissen aber, dass sich der Angriff oft zuerst gegen das Insulin selbst richtet. Deshalb möchten wir dem Immunsystem beibringen, Insulin nicht zu bekämpfen.
Wie soll das funktionieren?
Unsere Hoffnung ist, dass sich das Immunsystem durch die tägliche Gabe von Insulinpulver mit einer Mahlzeit langsam an das Hormon gewöhnt. Die Immunzellen in Mund und Magen-Darm-Trakt sind besonders lernfähig. Sie müssen sich ständig mit vielen verschiedenen Nahrungsbestandteilen auseinandersetzen. Normalerweise treffen diese Immunzellen aber nie auf Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse gebildet wird. Kommen sie regelmäßig mit Insulin in Kontakt, könnten sie lernen, dass das Hormon kein schädlicher Eindringling ist und diese Information an andere Immunzellen im Körper weitergeben. Dann bleibt der Angriff auf die insulinproduzierenden Zellen bestenfalls ganz aus.
Aber Insulin senkt doch den Blutzucker ...
Nur wenn man es spritzt. Geschlucktes Insulin wird bei der Verdauung aufgespalten und damit unwirksam. Deswegen gibt es Insulin auch nicht als Tablette. Erste Studien mit insgesamt 69 Kindern im Alter von sechs Monaten bis sieben Jahren haben vor wenigen Jahren gezeigt, dass die tägliche Gabe von Insulinpulver über mehrere Monate nicht zu Unterzuckerungen führt. Auch andere Nebenwirkungen traten nicht auf. Teilgenommen haben Kinder bei denen durch einen Bluttest Risikogene für Typ-1-Diabetes gefunden wurden und deren Eltern oder Geschwister bereits Diabetes haben.
Haben die Studien auch gezeigt, dass die Gabe von Insulinpulver das Immunsystem günstig beeinflusst?
Bei den Kindern, die das Pulver in hoher Dosierung bekommen haben, wurden offenbar sogenannte regulatorische T-Zellen aktiviert. Diese sind im Immunsystem dafür zuständig, einen Angriff auf körpereigene Proteine , wie etwa Insulin, zu verhindern. 2018 haben wir eine große Studie mit dem Namen "POInT" gestartet, an der mehr als 1000 Kinder aus fünf Ländern in Europa teilnehmen sollen. Damit können wir hoffentlich zeigen, dass die regelmäßige Gabe von Insulinpulver die Entstehung des Typ-1-Diabetes hinauszögern oder bestenfalls verhindern kann. Erste Ergebnisse sollen 2025 vorliegen.
Wie läuft diese Studie ab?
Kinder ab dem vierten bis siebten Lebensmonat bekommen bis zum Alter von drei Jahren täglich eine Dosis Insulinpulver oder ein Placebo, also ein Pulver ohne Insulin, mit dem Essen, etwa zusammen mit Brei oder Joghurt. Wir möchten das Immunsystem der Kinder möglichst früh trainieren. Denn wir haben auch herausgefunden, dass der Autoimmunprozess, der zu Typ-1-Diabetes führt, oft schon in den ersten drei Lebensjahren beginnt. Teilnehmen können Kinder mit Risikogenen für Typ-1-Diabetes. Ob diese vorhanden sind, wird mit einem einfachen Bluttest ermittelt.
Was erproben die Forscher noch?
Internationale Studien untersuchen auch, ob sich der Typ-1-Diabetes durch Substanzen verhindern lässt, die gezielt Immunzellen hemmen, welche Autoimmunprozesse im Gang setzen. Eine dieser Substanzen ist der monoklonale Antikörper Teplizumab. Dazu hat eine im Sommer 2019 veröffentlichte Studie vielversprechende Ergebnisse geliefert.
Nämlich?
Eine zweiwöchige tägliche Gabe von Teplizumab als Infusion verzögerte den Ausbruch des Typ-1-Diabetes um durchschnittlich zwei Jahre. An der Studie nahmen 76 Kinder und Erwachsene teil. Alle waren mit einem Typ-1-Diabetiker verwandt und hatten bereits diabetesspezifische Antikörper im Blut. Diese zeigen, dass der Typ-1-Diabetes schon begonnen hat. Bei den Teilnehmern war auch der Zuckerstoffwechsel bereits gestört. Die Wirkung von Teplizumab wird nun in weiteren Studien untersucht.
Auch in Deutschland?
An einer gerade gestarteten internationalen Studie sind mehrere Kinderkliniken in Deutschland beteiligt. Untersucht wird, ob Teplizumab bei Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 17 Jahren mit neu aufgetretenem Typ-1-Diabetes den Autoimmunprozess ausbremsen und so die noch verbliebene Insulinproduktion länger erhalten kann. Dazu wird Teplizumab oder ein Placebo im Abstand von sechs Monaten je zwölf Tage lang einmal täglich als Kurzinfusion gegeben.
Kann diese Immuntherapie auch Nebenwirkungen haben?
Häufig kommt es unter der Behandlung mit Teplizumab zu einem vorübergehenden Mangel an bestimmten weißen Blutkörperchen (Lymphozyten) und Hautausschlag. Ob es auch langfristige Nebenwirkungen geben kann, ist noch nicht geklärt.
Verhindern lässt sich der Typ-1-Diabetes mit Teplizumap aber nicht ...
Nein. Aber, und das gilt auch für unsere Studien mit Insulinpulver: Selbst wenn es nur gelänge, einen Teil der insulinproduzierenden Zellen zu retten, würde das schon viel bringen. Wir wissen, dass Typ-1-Diabetiker die noch etwas Insulin produzieren, stabilere Blutzuckerwerte und langfristig weniger Folgekrankheiten haben.
Forscher entwickeln auch eine Impfung gegen Coxsackie-Viren, die im Verdacht stehen, Typ-1-Diabetes auslösen zu können. Ließe sich das mit einer Impfung verhindern?
Es gibt viele Hinweise darauf, dass Kinder, die sich in den ersten Lebensjahren mit Coxsackie-Viren infiziert haben, häufiger an Typ-1-Diabetes erkranken. Möglicherweise weil das Immunsystem bei der Bekämpfung der Viren auch die insulinproduzierenden Zellen angreift. Eine Impfung könnte davor schützen. Allerdings nur, wenn tatsächlich Coxsackie-Viren für den Ausbruch des Typ-1-Diabetes mitverantwortlich sind. Wie häufig das der Fall ist, lässt sich nicht sagen. Eine US-Firma arbeitet an einem Impfstoff gegen Coxsackie-Viren, der bereits in zwei Jahren auf den Markt kommen könnte.
Studien zufolge könnte auch die Impfung gegen Rotaviren vor Typ 1 schützen ...
Rotaviren verursachen Magen-Darm-Erkrankungen, könnten aber möglicherweise auch an der Entstehung des Typ-1-Diabetes beteiligt sein. Zwei große Langzeit-Beobachtungsstudien aus den USA und Australien haben ergeben, dass Kinder, die gegen Rotaviren geimpft sind, seltener, an Typ-1-Diabetes erkranken. In Deutschland wird die Impfung gegen Rotaviren seit 2013 für Säuglinge empfohlen. Der mögliche Schutz vor Typ-1-Diabetes ist ein weiterer Grund, sein Kind impfen zu lassen.