Die Hürden vor und nach der Magen-OP
Wie sehr sich ein Leben verändert hat, merkt man manchmal an einem einzigen Gedanken. Für Mihaela S. ist es die Frage: "Was soll ich anziehen?" Sie sitzt am Esstisch in ihrer Wohnung, in der Hand das Handy, und lässt Bilder der letzten Wochenenden an sich vorüberziehen.
Soll sie noch einmal das Festliche in Himmelblau anziehen? Oder das Kleid aus dunkelblauem Chiffon, das so gut zu ihren Haaren passt? Eigentlich ist es fast egal, sagt Mihaela. Sie hat endlich wieder die Wahl. Bald will sie erneut ausgehen, irgendwo in einen Club im Münchner Ortsteil Schwabing. "Nicht Standardtanz. Abrocken!" Ein Leben feiern, in dem Klamotten nicht mehr nur bequem sein müssen.
Kleinerer Magen gegen großen Hunger
Vor zwei Jahren wog Mihaela 114 Kilo. Bei einer Körpergröße von 1,50 m bedeutet das einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 50. Im Medizinerdeutsch: Adipositas dritten Grades. Dazu kamen Kreislaufprobleme, hohe Blutfettwerte, Diabetes.
Heute zählt Mihaela zu den "Operierten". So nennen stark übergewichtige Menschen die, die sich einem Eingriff am Magen unterzogen haben. Adipositas-Chirurgie sagen Fachleute, Magenverkleinerung heißt es im Volksmund. Mihaela wurde am 12. 12. 2017 operiert, das Datum wird sie nie vergessen. "Als Normalgewichtiger kann man sich nicht vorstellen, was das alles in Bewegung setzt", sagt sie.
In Deutschland gibt es bereits 120 000 Operierte, jedes Jahr kommen etwa 10 000 dazu, Tendenz steigend. Mit verschiedenen Verfahren verkleinern Chirurgen den Magen und leiten den Weg der Nahrung durch den Verdauungstrakt um. Die Patienten können danach erheblich weniger essen und haben weniger Hunger.
Mehr Lebensqualität und Motivation
Die OP- Methoden bewirken zudem, dass sie weniger Nährstoffe aufnehmen. Viele schaffen es so, ihr Übergewicht in nur wenigen Monaten drastisch zu reduzieren. Ein Minus von bis zu 25 Prozent ist keine Seltenheit – ebenso wie positive Effekte auf die Gesundheit insgesamt.
Viele etwa, die unter Typ-2-Diabetes leiden, benötigen nach der OP keine Medikamente mehr oder viel weniger. Bei Mihaela hat sich die Erkrankung ebenfalls deutlich gebessert.
25 Kilogramm hat sie verloren. Sie kann wieder mehr als nur zehn Meter gehen, ohne sich setzen zu müssen. Manchmal ist sie schon nach wenigen Löffeln Joghurt satt. Und sie will weiter abnehmen. 75 Kilogramm zu wiegen, das wäre ihr Traumziel. So viel wog sie zuletzt als Teenager.
Warum die Weltbevölkerung zu viel wiegt
Adipositas gilt vielen Medizinern als eines der größten Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Mehr als die Hälfte aller Deutschen ist übergewichtig, fast ein Viertel davon adipös, also extrem übergewichtig.
Doch nicht nur westliche Industrienationen haben ein Fett-Problem. Eine Studie im Fachmagazin Lancet analysierte 2016 Hunderte Untersuchungen aus allen Ländern der Erde. Ergebnis: Mittlerweile leben weltweit mehr fettleibige als untergewichtige Menschen.
Für diese Entwicklung gibt es mehr als einen Grund. Da ist zum einen die Lebensmittelindustrie, die weltweit für ein Überangebot an zucker- und fetthaltiger Nahrung sorgt. Dann sind da unsere Gene. Genau weiß man noch nicht, wie das Zusammenspiel der Erbanlagen zur Adipositas-Pandemie beiträgt. Doch dass manche Menschen dicker werden und andere nicht, bewirken zu 40 bis 70 Prozent unsere Gene, sagen Experten.
Und auch Hormone spielen eine Rolle, vor allem Insulin – es gilt als Mast-Hormon. Wer zu viel Zucker zu sich nimmt oder den ganzen Tag ohne lange Pausen ständig isst, hält den Insulinspiegel in seinem Körper dauerhaft hoch.
Viele Hürden vor der Hilfe
Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 gelten Menschen mit Übergewicht als behandlungsbedürftig. Der Weg zur Therapie ist jedoch nicht immer einfach.
Dazu kommen Umwelteinflüsse, der Bildungsgrad, die Psyche und über
30 Krankheiten, die extremes Übergewicht begünstigen können. Bei Mihaela war es auch ein Wachstumshormon-Mangel, der zur Adipositas führte. Er bewirkt zudem, dass bei ihr das Gewicht langsamer sinkt als bei anderen Operierten. "Jeder Körper reagiert anders – das musste ich erst akzeptieren." Trotzdem hofft sie, dass noch ein paar Kilos schmelzen.
Hoffnungen – für Dr. Min-Seop Son, Chefarzt der Abteilung für Allgemein-, Viszeral- und Adipositas-Chirurgie der Münchner WolfartKlinik, ein Dauerthema. Seine Sprechstunde besuchen Menschen mit Adipositas, die sich über die Therapiemöglichkeiten informieren wollen.
Eine Bürde von 164 Kilo
Es ist hell in seinem Büro, alles ist etwas großzügiger: die Türen, die Sitzgelegenheiten. Niemand, der hierherkommt, soll anecken oder stecken bleiben. "Unsere Patienten sind mehr als nur ein bisschen übergewichtig, und sie sind es nicht erst seit gestern", berichtet Min-Seop Son.
Der durchschnittliche BMI der Patienten, die sich zu einer Operation entschließen, liegt bei 53. Für einen Mann von 1,75 Metern bedeutet das ein Gewicht von 164 Kilo. Bei einer 1,65 großen Frau sind es 145 Kilo. Was diese Zahlen im Alltag bedeuten, weiß der Mediziner aus den Gesprächen mit Betroffenen.

Dr. Min-Seop Son ist Chefarzt am Adipositas-Zentrum München-Gräfelfing
© W&B/Andrè Kirsch
Einige können ihre Schuhe nicht mehr binden, weil ihnen der Körper im Weg ist. Sie brauchen Hilfe, wenn sie zur Toilette gehen. Andere leiden darunter, dass sich ihre Kinder für sie schämen. Dazu kommen Stoffwechselprobleme, schlechter Schlaf, weil das Gewicht im Liegen das Atmen erschwert. Junge Frauen können nicht schwanger werden.
Krankheit ohne richtige Behandlung
Gemeinsamer Nenner aller Einzelschicksale: Verzweiflung. Denn selbst von Ärzten bekommen die Patienten kaum echte Behandlungen angeboten, weiß der Chirurg. "Stattdessen gibt es schlaue Tipps wie: Sie müssen abnehmen. Mehr Bewegung, weniger Essen, Sie schaffen das schon."
Mit Wissenschaft oder Medizin haben solche Ratschläge nichts zu tun. Ab einem BMI von 35 bringen sogenannte Lebensstiländerungen, also Sportprogramme oder Diäten, selten einen dauerhaften Gewichtsverlust – bei einem BMI von über 50 nie. Das ist der Stand der Forschung, so steht es auch in den aktuellen Leitlinien zur Behandlung der Adipositas.
Dass viele Ärzte trotzdem stur Kalorienreduktion und Bewegung empfehlen, zeigt, woran es unter anderem hapert. Gesellschaft und Politik tun sich schwer, Übergewicht als Krankheit anzuerkennen. Als chronische Krankheit, die eine lebenslange Therapie benötigt – das fordert etwa die Adipositas-Gesellschaft. Durchgedrungen ist sie damit bisher nicht.
Krankenkassen sehen Adipositas formal noch nicht als Krankheit an
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Universität Mannheim zeigte letztes Jahr: 78 Prozent der Befragten sehen Übergewicht als selbst verschuldetes Problem an. Mediziner denken kaum anders. Eine Umfrage der Universität Leipzig unter niedergelassenen Ärzten ergab: Fast 60 Prozent sind der Meinung, übergewichtigen Patienten fehle es schlicht an Willensstärke.
Diese "Selber schuld"-Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Gesundheitssystem. Adipositas gilt auch bei Krankenkassen formal immer noch nicht als Krankheit.
Guter Rat ist teuer
Gute Therapieangebote auf Kassenkosten sind deshalb die Ausnahme. Etwa sogenannte multimodale Konzepte, die Menschen mit Verhaltens- und Bewegungstherapie sowie Ernährungsberatung beim Abnehmen unterstützen, solange das noch etwas bringt.
Eine Operation wird ebenfalls nicht automatisch von den Kassen bezahlt. Für den Antrag müssen Betroffene eine ganze Liste an Unterlagen vorlegen – vom Motivationsschreiben bis zum psychologischen Gutachten.
Mihaela fand in dieser Phase Unterstützung bei der Selbsthilfegruppe "Dicke Freunde München". Vor einem halben Jahr übernahm sie deren Leitung. Sie möchte ihre eigenen Erfahrungen weitergeben. "Außerdem will ich ja selber dranbleiben."
Voneinander lernen
Im September besuchte sie eine Tagung für Leiter von Adipositas-Selbsthilfegruppen. Es gab Vorträge über sogenannte Revisionseingriffe. Oft ist es nämlich mit einer Operation nicht getan, etwa wenn Nähte undicht sind oder der Verdauungstrakt noch mal umgebaut werden soll. Dann muss erneut operiert werden.
In der Tagungspause wurden Adressen von Ökotrophologen ausgetauscht und Rezepte für eiweißreiche Zwischenmahlzeiten. Auf einem Tisch lagen Broschüren: Die Selbsthilfegruppe Bogenhausen lädt ein zur XXL-Party unter dem Motto "Tanzen ist auch Sport". Klar will Mihalea da hingehen.
Selbsthilfegruppen dienen vielen Betroffenen als erste Anlaufstelle. Vor dem Eingriff und danach. Denn auch Operierte können Krisen erleben, weiß Mihaela: "Die OP betrifft ja erst mal nur den Magen. Bis der Kopf mitkommt, das braucht wesentlich länger."
Hochgefühle nach der OP...
Die ersten Monate sind die einfachsten: Viele Operierte genießen das Leben in vollen Zügen, so wie Frischverliebte die Flitterwochen. Deshalb wird diese Zeit Honeymoon-Phase genannt.
"Doch das Hochgefühl ist irgendwann vorbei. Dann kann es bei einigen ganz schnell kippen", sagt Dr. Bodo Warrings, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Würzburg.
Er betreut unter anderem Patienten, die sich im dortigen Adipositas-Zentrum operieren lassen. Zum Beispiel solche, die nach dem Abnehmen panische Angst entwickeln, wieder zuzunehmen. "Wie bei Magersuchtpatienten. Nur eben im Körper ehemaliger Adipöser", sagt Warrings.
...und plötzlich steht das Leben wieder Kopf
Häufig steht nach dem Eingriff das Privatleben Kopf. Manche Patienten verlieben sich neu, Beziehungen zerbrechen. "Wenn Patienten auf einmal wieder selbstbewusst sind, unternehmungslustig und aktiv, dann kommen nicht alle Partner damit klar", so Warrings.
Die Operation schafft auch neue medizinische Probleme, etwa wenn nach dem Abnehmen Gewebe schlaff am Körper herunterhängt. An Schenkeln, Bauch und Oberarmen entstehen Hautschürzen, die entfernt werden müssen. Oft hat der Patient das selbst zu bezahlen.
Manche Menschen verlieren nach dem Eingriff den Boden unter den Füßen. Studien aus den USA, Australien und Schweden zeigen: Die Selbstmordrate unter Menschen nach einer Adipositas-OP ist höher als in der Allgemeinbevölkerung.
Auch Warrings hat Patienten erlebt, die in schwerste Depressionen verfielen. Etwa solche, deren einziges Mittel zur Frustbewältigung Essen war. "Das fällt nach der Operation weg. Dadurch erscheint Betroffenen ihre Situation ausweglos."
Betreuung auf Lebenszeit
Dazu kommt der Einfluss sozialer Medien. Auf speziellen Seiten für Operierte bekommen die, die viel abnehmen, auch viel Zuspruch. Kommt jemand unter hundert Kilo, wird zum Beispiel zum "UHU-Tag" gratuliert. Wer keine Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat, zieht sich zurück – aus Angst, in der eigenen Gemeinschaft als Versager dazustehen.
Experten weltweit fordern schon lange, dass Menschen nach einer Magenverkleinerung besser betreut werden. "Eigentlich brauchen alle eine lebenslange Nachsorge. Doch das ist bislang ein Riesenproblem", sagt etwa Professor Martin Fassnacht, Endokrinologe und Diabetologe an der Universitätsklinik Würzburg.
78 Kliniken sind in Deutschland als Adipositas-Zentrum zertifiziert. Das bedeutet unter anderem, dass sie ein Konzept zur Nachsorge anbieten und sich verpflichten, 75 Prozent ihrer Patienten bei der Stange zu halten.
Pilotprojekt in der Adipositas-Betreuung
Wie eine solche strukturierte Nachsorge auch außerhalb der Krankenhäuser funktionieren könnte, wird derzeit erstmals in Deutschland untersucht. Das Geld dafür kommt vom Gemeinsamen Bundesausschuss, die Daten stammen von der AOK Bayern. Das Adipositas-Zentrum Würzburg koordiniert die Studie, an der sieben weitere Zentren teilnehmen.
470 Patienten sollen im Rahmen der Analyse zwei Jahre lang nach der Operation nicht in der Klinik, sondern in speziellen Partnerpraxen engmaschig betreut werden. Adipositas-Lotsen und eine App sollen die Betroffenen unterstützen. Das Ziel des Pilotprojekts: Operierte sollen sich nicht mehr auf sich allein gestellt fühlen.
Mihaela will in ihrer Selbsthilfegruppe ebenfalls alles dafür tun, dass die Menschen dabeibleiben. Sie hat eine Achtsamkeits-Trainerin eingeladen, plant eine große Nachsorge-Veranstaltung. Vielleicht auch mal Yoga für Adipositas-Patienten.
Die Komfortzone verlassen
"Ich sag immer: 'Leute, ihr müsst doch auch mal offen sein für Neues!'" Sie selbst versucht es zumindest. Immer wieder raus aus der Komfortzone.
In diesem Jahr ist sie mit anderen Adipositas-Patienten ein Stück des Jakobswegs gegangen. 119 Kilometer zu Fuß und im Gepäck die bange Frage: "Ob ich das schaffe?"
Mihaela war tatsächlich langsamer als die anderen. Am fünften Tag fuhr sie das letzte Stück im Taxi. Am sechsten Tag ging sie weiter. Als sie dann nach acht Tagen am Ziel ankam, erschöpft, aber glücklich, standen alle Spalier und applaudierten.