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Gewalt in Arztpraxen ist ein wachsendes Problem. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Umfrage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Demnach haben knapp 80 Prozent der niedergelassenen Ärzte, Ärztinnen und Physiotherapeuten allein im vergangenen Jahr verbale Gewalt wie Beschimpfungen und Drohungen erlebt. Auch körperliche Gewalt ist keine Seltenheit: Mehr als 40 Prozent der etwa 7600 Befragten gaben an, in den zurückliegenden fünf Jahren schon einmal angegriffen worden zu sein.

„Insgesamt ist der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden“, sagte KBV-Vizechef Dr. Stephan Hofmeister. „Die Praxen als Spiegelbild unserer Gesellschaft bilden da keine Ausnahme.“ Zwar sei das Verhältnis zwischen Patientinnen beziehungsweise Patienten und Praxen in den meisten Fällen von Vertrauen geprägt. „Nichtsdestotrotz ist diese Entwicklung besorgniserregend.“

Die KBV drängt nun darauf, Arztpraxen in Zukunft besser zu schützen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) plant derzeit, schärfere Strafen bei Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte[1] einzuführen. Aus Sicht der Kassenärzte sollten auch die Praxen in das neue Gesetz aufgenommen werden.

Wie sehr Gewalt den Praxisalltag beeinflussen kann, berichten hier eine Ärztin und eine Medizinische Fachangestellte (MFA).

„Seit Corona ist die Gewalt in der Praxis explodiert“

Anne Greiwe, Hausärztin in Rheine-Mesum, berichtet:

„Ich habe 2014 in der Praxis angefangen, war dazwischen drei Jahre in Dortmund und bin seit 2018 wieder da. Und ich habe das Gefühl: Im Vergleich zu 2014 ist die Stimmung eine andere. Besonders seit Corona ist die Gewalt in der Praxis explodiert. Vor allem der Egoismus hat zugenommen. Die Leute wollen sofort einen Termin oder Rezept – egal, ob wir gerade Zeit haben oder nicht.

Ich führe das auf die generelle Angst durch die Pandemie und mittlerweile auch auf die Kriege zurück. Es gibt viele Menschen, die versuchen, sich ihre eigene heile Welt zusammenzuhalten. Wenn da etwas nicht sofort klappt, werden sie wütend. Rücksicht auf andere wird nicht genommen. Das ist wie die Hamsterkäufe während der Coronapandemie: Man achtet nicht auf andere, sondern nur noch auf das, was man selber braucht.

An eine Situation erinnere ich mich, in der mein Chef die Polizei rufen musste, weil ein Patient mit Mord gedroht hat. Auch ich habe vereinzelt Patienten der Praxis verwiesen. Tätliche Gewalt habe ich glücklicherweise noch nicht erlebt, wurde jedoch des Öfteren angeschrien, oder bedrängt. Mein Chef lebt in der Praxis die Philosophie: Meine Patienten sind meine Gäste und Freunde. Gäste müssen sich aber auch benehmen, es darf keine Einbahnstrasse sein.

Generell bekommen unsere MFA den meisten Druck an der Anmeldung ab. Patienten sind wütend, weil etwas schlecht gelaufen ist und lassen ihren Frust direkt beim Betreten der Praxis ungefiltert ab. Wir Ärzte spüren das nicht, weil die MFA häufig schon deeskaliert haben. Für die Mitarbeiter ist das ein belastender Arbeitsplatz. Dieser ständige Kampf ist sehr demotivierend für unsere Mitarbeiter, die einen wirklich tollen Job machen.

Aus diesem Grund bitte ich unsere MFA, mich bei Problemen immer dazu zu holen, insbesondere, wenn der Konflikt durch ärztliche Entscheidungen ausgelöst wurde. Für meine Entscheidungen übernehme ich grundsätzlich die Verantwortung.

Natürlich kommt es auch vor, dass wir Fehler machen und dadurch Konflikte entstehen. Auch ist es mir schon passiert, dass ich zum Beispiel ein Medikament in der falschen Packungsgröße verordnet habe. Manche Patienten werden dann aber schnell ungehalten und ausfallend, obwohl wir uns natürlich entschuldigen. Aber wir sind eben auch nur Menschen, und machen manchmal Fehler.

Uns in das Strafgesetz aufzunehmen wird vermutlich niemand von Gewalt abschrecken, aber den Vorschlag von Herrn Gassen aufzunehmen, wäre zumindest schon mal ein Schritt auf uns zu und in die richtige Richtung.

Die Tatsache, dass der Hausarztberuf das Stiefkind der Medizin ist und es nur noch wenige Kolleginnen und Kollegen gibt, die diesen Job überhaupt noch machen möchten, erschwert es uns, auch in Zukunft die hausärztliche Versorgung zu sichern. Meine Bitte an die Politik: Eine Verschlankung der Bürokratie sowie eine finanzielle Unterstützung für Schulungen zur Deeskalation oder auch psychologische Hilfe für Betroffene, denn auch Mitarbeitende in Praxen sind Menschen mit Gefühlen.

Mein Wunsch an die Patienten: Springen Sie mal über Ihre eigenen Schatten und lassen Sie jemanden vor, wenn Sie sehen, dass es der Person nicht gut geht. Achten Sie aufeinander – das ist alles ein Miteinander.“

„Beleidigungen und Beschimpfungen erlebte ich manchmal täglich“

Patricia Ley, MFA und Vizepräsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe, berichtet:

„Ich habe fast 20 Jahre als MFA im stationären und ambulanten Bereich gearbeitet. Das Thema Gewalt hat mich in all der Zeit begleitet.

Beleidigungen und Beschimpfungen erlebte ich manchmal täglich. Ich wurde beschimpft oder Patienten schrien, wenn ich ihnen zum Beispiel nicht direkt einen Wunschtermin geben konnte. Ein Ereignis ist mir besonders im Kopf geblieben: Ein Patient wollte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Es war aber bereits geklärt, dass er sie nicht bekommt. Trotzdem hat er mit mir diskutiert, brüllte, griff nach irgendwelchen Gegenständen wie Visitenkartenhalter oder einer Vase und warf sie nach uns.

Und auch sexualisierte Gewalt kommt in Arztpraxen vor. Das ist immer noch ein tabuisiertes Thema. Aber ich kenne nur wenige Kolleginnen, die nicht davon betroffen sind. Mir wurden Telefonnummern zugeschoben oder ich wurde begrabscht und gestreichelt, während ich zum Beispiel einen Verband anlegte. Manchmal haben mich auch Patienten um ein Date gefragt, während ihre Frau im Wartezimmer saß.

Eine Ursache für Konflikte ist, dass Patienten von Leistungsträgern oder der Politik Dienstleistungen versprochen werden, die wir nicht leisten können beziehungsweise dürfen. Zum Beispiel beraten Krankenkassen ihre Patienten unzureichend und erzählen, dass ihnen zum Beispiel ein Krankentransport, eine Physiotherapieverordnung oder häusliche Pflege zusteht. Dabei vergessen sie zu erwähnen, dass die Ärzte zunächst über diese Leistungen anhand der Diagnose und sinnvollen Therapie entscheiden müssen. Und die müssen sich an strenge Regeln halten, damit die Kasse die Kosten am Ende auch tatsächlich übernimmt.

Ich habe mir in den fast 20 Jahren – gerade nach Konfliktsituationen – überlegt, warum ich den Job überhaupt mache: Die Bezahlung ist nicht gut und die Arbeitsbedingungen können besser sein – es ist die Arbeit mit Menschen und einem wertschätzenden Team, die viele von uns für diesen Beruf begeistert hat. Doch die Gewalt nimmt zu. Viele MFA sind mit der Situation überlastet. Denn in der Ausbildung wird man nicht wirklich darauf vorbereitet.

Eine Folge für mich war, dass ich psychisch durch aggressives Verhalten beeinträchtigt wurde und komplett mein Verhalten änderte: Ich war nach manchen Konflikten verängstigt und hatte die nächsten Tage bei jedem wütenden Patienten Angst, dass die Situation wieder eskalieren könnte. Da habe ich gegen Dienstanweisungen verstoßen und versucht, alle Wünsche – die der Patienten und des Arbeitgebers – zu erfüllen. Manche Patienten wissen das auch und reagieren deswegen mit aggressivem Verhalten und Gewalt. Erst mit den Berufsjahren habe ich, durch Fortbildung und Austausch mit Kollegen, gelernt, besser mit solchen Situationen umzugehen. Zermürbend bleiben diese dennoch.

Die Politik muss darum Maßnahmen ergreifen, uns zu schützen. MFA und ZFA wurden nicht bei der Ausweitung des strafrechtlichen Schutzes beachtet. Dies zu ändern, wäre ein deutliches politisches Signal. Auch sollten die Angriffe in der Praxis systematisch erfasst werden, um eine valide Datenlage zu schaffen.

Es muss auch mehr über das Thema geredet und gehandelt werden: Ich glaube, vielen Politikern ist gar nicht bewusst, dass es Gewalt in der Praxis gibt und schon gar nicht, wie sich das auf uns als Person und unsere Arbeit auswirkt. Zudem sollten Arbeitgeber nach einem Vorfall ihre Mitarbeiter besser schützen und unterstützen.

An die Patientinnen und Patienten habe ich auch einen Wunsch: Bitte haben Sie mehr Verständnis. Wir sind nicht schuld am System. Jede MFA und ZFA gibt jeden Tag ihr Bestes und will Ihnen nichts Böses. Erscheint Ihnen eine MFA oder ZFA unfreundlich, so hat dies meist Gründe, zum Beispiel hat sie eben ein anderer Patient schon wütend angefahren. Wir sollten aber trotzdem alle gewissenhafter miteinander umgehen und aufeinander achten – und weniger Ich-fokussiert sein.“

„Wir mussten schon Leute aus der Praxis drängen“

Dr. Uwe Schwichtenberg, Hautarzt in Bremen

„Ich leite seit 22 Jahren eine Hautarztpraxis in Bremen und habe festgestellt: Die Menschen verrohen. Diese Entwicklung hat sich durch Corona beschleunigt. Mittlerweile erlebe ich fast täglich Beschimpfungen.

Die Menschen werden immer dann unfreundlich, wenn sie zum Beispiel länger im Wartezimmer sitzen. Unsere MFA wurden deswegen schon als „Fotze“ bezeichnet. Einmal hat hier auch jemand rumgebrüllt und uns alle „Arschlöcher“ genannt. Eigentlich ist es mir unangenehm, solche Worte auszusprechen. Aber so etwas müssen wir uns im Alltag leider regelmäßig anhören.

Probleme gibt es auch, wenn Patienten Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen in Anspruch nehmen wollen, die wir ihnen nicht geben können. Einmal wollte eine Patientin prophylaktisch einen Wundverband, weil sie an einer Stelle mal eine Wunde hatte. So ein Verband kostet 25 Euro. Ich habe ihr dann erklärt, dass ich das nicht zulasten der Krankenkasse verschreiben kann. Denn die könnte mich dafür in Regress nehmen. Das heißt, ich müsste es aus eigener Tasche zahlen. Ihre Antwort darauf war: „Das geht mir am Arsch vorbei, dass Sie in Regress genommen werden können“.

Ich habe auch schon Leuten, die lauter wurden, Hausverbot erteilt. Das kommt so drei bis vier Mal im Jahr vor. Einen anderen mussten wir aus der Praxis drängen und er hat im Abgang gesagt: „Ich weiß, wo du wohnst“. Da weiß man nie: Ist das eine reale Bedrohung oder nur ein bellender Hund? Ich bin 1,92 Meter groß und mache Eindruck auf die Leute. Aber auch ich werde zittrig, wenn ich so eine Situation erlebe. Und gerade meine Kolleginnen haben ein schlechtes Gefühl, wenn ihnen körperliche Gewalt angedroht wurde. Da geht man dann abends schon mal zusammen zum Auto.

Anzeige haben wir nie erstattet. Was soll das bringen? Der Mensch wird dadurch nicht vernünftiger. Was uns aber helfen würde wäre, wenn die Politik das Thema ernst nehmen und uns mehr Wertschätzung geben würde. Wie unsere Gehälter anpassen und nicht immer so zu tun, als seien alle Leistungen in Hülle und Fülle verfügbar und uns dann mit Patienten allein zu lassen. Das werfe ich allen Gesundheitsministern vor, sowohl Vorgänger Jens Spahn als auch aktuell Karl Lauterbach.

Es gibt übrigens auch Patienten, die ihre Fehler einsehen, wiederkommen und sich entschuldigen. Wir verhalten uns auch nicht immer, wie es im Lehrbuch steht und wir haben darum für Patienten Verständnis, die wieder auf Normalspur geraten. Das ist aber nicht oft der Fall.

Die Pöbelei hat auch Folgen für die Versorgung: Ich habe im Jahr 2023 mehrere MFA verloren. Drei kündigten, weil sie die Anfeindungen nicht mehr ertragen konnten. Wir mussten unseren zweiten Standort schließen und können jetzt nur noch weniger Patienten betreuen.

Ich erkläre meinen Patienten darum oft: Sie müssen sich um ihre Ärzte und MFA kümmern, wenn Sie wollen, dass wir morgen noch da sind. Doch ich bezweifle, dass es bei allen kommt. Klar, machen viele von uns den Beruf aus Überzeugung. Aber das funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Darum bitte ich die Leserinnen und Leser: Wenn Herr Lauterbach uns schon nicht die nötige Wertschätzung entgegenbringt, dann tun Sie es doch bitte.“


Quellen:

  • [1] Bundesamt für Justiz: § 115 Widerstand gegen oder tätlicher Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. https://www.gesetze-im-internet.de/... (Abgerufen am 01.09.2024)
  • Schmitt-Sausen, Nora: Gewalt gegen Ärzte: Gewappnet für den Ernstfall. Deutsches Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 01.09.2024)
  • Ärztekammer Westfalen-Lippe: Gehle: Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte gesellschaftlich nicht länger ignorieren. https://www.aekwl.de/... (Abgerufen am 01.09.2024)
  • Kassenärztliche Bundesvereinigung: Schutz von Praxen vor Anfeindungen und Gewalt. https://www.kbv.de/... (Abgerufen am 13.09.2024)