Wie Psychotherapie hilft

Seelische Leiden: Im Laufe seines Lebens erkrankt in etwa jeder Dritte an einer psychischen Störung. Jährlich werden hierzulande ungefähr eine Million Patienten behandelt
© Ivan Ozerov / Stocksy United
Roboter im OP, künstlicher Ersatz für Gelenke, Labor-Basteleien am Erbgut. Im Zeitalter modernster Medizin erscheint es simpel und faszinierend zugleich: Zwei Menschen sitzen sich gegenüber und reden. Und das hilft. Die meisten seelischen Leiden werden vorrangig so behandelt.
Das Spektrum der Patienten ist breit. Manche fühlen sich beschämt, wertlos, sind ihren extremen Emotionen ausgeliefert oder gefangen in Gedankenspiralen. Manche trauen sich nicht in einen Fahrstuhl, andere gar nicht mehr aus der Wohnung. Häufige Diagnosen sind Depression, Angst- und Zwangsstörung. Doch egal worunter jemand genau leidet – wenn die Seele streikt, stolpert das Leben, steht vielleicht sogar komplett still.
Deutsche Versorgung einzigartig
Etwa jeder Dritte erkrankt im Lauf seines Lebens an einer psychischen Störung. Die Versorgung, die das deutsche Gesundheitssystem dann bietet, ist weltweit einzigartig. Drei verschiedene Therapieverfahren stehen Versicherten zur Verfügung, eine vierte Methode kommt demnächst hinzu (die Systemische Therapie). Etwa eine Million Patienten werden jährlich behandelt. Pro 100.000 Einwohner gibt es 29 Psychotherapeuten. Die gesetzlichen Kassen genehmigen fast alle Therapieanträge und übernehmen die Kosten.
Aber: Wie wirksam ist Psychotherapie wirklich? Worauf kommt es an, damit sich der Patient dauerhaft besser fühlt? Wie wichtig sind die Auswahl des Therapeuten und der Methode?
Wie viele andere medizinische Behandlungen wirkt auch Psychotherapie nicht immer und bei jedem. Dennoch sind die Ergebnisse beachtlich.
"Wir erreichen immerhin etwa jeden dritten Patienten durch unsere Intervention, herausragende Therapeuten jeden zweiten. Viele Medikamente, die bei körperlichen Erkrankungen eingesetzt werden, schneiden schlechter ab", sagt Psychotherapeut Dr. Robert Mestel, Leiter für Qualitätssicherung an den Helios-Kliniken Bad Grönenbach.
Als sehr gut behandelbar gelten Panik- und Angststörungen.
Beschwerden durch Psychotherapie überwinden
"Bei bis zu 80 Prozent der Patienten kommt es zu einer Heilung oder starken Verbesserung, sodass sie wieder gut leben können", berichtet Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Marburg. Bei Zwangsstörungen dagegen bleiben fast immer Symptome zurück.
Etwa die Hälfte der depressiven Patienten kann durch Psychotherapie die Beschwerden überwinden oder zumindest deutlich lindern. Allerdings ist bei dieser weit verbreiteten Krankheit das Rückfallrisiko besonders hoch: Mehr als zwei Drittel der Betroffenen geraten erneut in eine depressive Episode.
Besonders schwierig gestaltet sich die Behandlung von Menschen, die bereits in der Jugend in ein schwarzes Loch gefallen sind, ein geringes Selbstwertgefühl haben, sich schwertun, Vertrauen aufzubauen. Christel G. (59) ist so eine Patientin.
Sie hat eine Kindheit hinter sich mit wenig Zuwendung und wenig gemeinsamer Zeit mit den Eltern. Später fühlt sie sich ungeliebt und immer an allem schuld. Die Belastungen prasseln auf sie ein: Scheidung, verfrühte Wechseljahre, Suizidversuch eines Familienmitglieds, zwei Freundinnen sterben, Stress im Job, der Kollege mobbt, die Schwiegermutter muss gepflegt werden.
Neue Methoden in der Verhaltenstherapie
Immer wieder will Christel "einfach nur tot sein". Sie weiß, dass sie Hilfe braucht. Aber die erste Psychotherapie bringt nur kurzfristig Erfolg. Bei der zweiten liegt ihr die Therapeutin nicht. Dass es ihr heute an den meisten Tagen gut geht, schreibt sie großteils ihrer nun endlich erfolgreichen Behandlung zu: "In den anderen Therapien wurde alles nur irgendwie mit der Gegenwart erklärt. Jetzt haben wir systematisch geschaut, woher das eigentlich kommt. Und ich habe konkrete Werkzeuge, wie ich anders mit schwierigen Situationen umgehen kann."
Christel G. hat vom "Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy" profitiert, einer neueren Methode in der Verhaltenstherapie. Sie modernisiert sich im Vergleich zu den anderen kassenfinanzierten Verfahren am meisten. Laufend werden neue Ansätze integriert.
Dann werden konkrete Situationen aus Christels Leben analysiert. Wie verhielt sich die Patientin? Welche Erwartungen hatte sie? Warum kam es nicht zum gewünschten Ergebnis? Wie würde ein objektiver Beobachter die Sache sehen? Zum Teil werden die Erlebnisse noch mal im Rollenspiel umgesetzt. "Damit die Patientin ins Spüren reinkommt", so Schamong. Mit der Psychologin entwickelt sich ein vertrauensvolles Verhältnis. "Bei ihr kann ich offen und ehrlich sein", erzählt Christel.
Eine gute Beziehung zum Therapeuten ist enorm wichtig. "Empathische Behandler, die glaubhaft Wertschätzung ausdrücken, sich Feedback einholen und auch mit schwierigen Charakteren umgehen können, sind nach aktuellem Erkenntnisstand die wirksamsten", sagt Mestel. So gut wie keine Rolle spielen dagegen die angesammelten Berufsjahre. "Erfahrene Psychotherapeuten sind im Schnitt keineswegs wirksamer als unerfahrene."
Der passende Therapeut
Der Therapeut sollte von seiner Methode überzeugt sein; sowohl er als auch der Patient sollten erwarten, dass ihre gemeinsame Arbeit Erfolge zeigen wird. Große Studien belegen, dass solche Faktoren bedeutsamer sind für positive Effekte als etwa die Art des Verfahrens. Dennoch eignen sich bestimmte Methoden nachweislich besser für bestimmte psychische Erkrankungen als andere – etwa Verhaltenstherapien bei Phobien.
In der Realität entscheidet allerdings oft eher der Zufall, bei welchem Therapeuten ein Patient landet und welches Verfahren ihm angeboten wird. "Unglaublich", findet Professor Martin Keck das. "Stellen Sie sich vor, wir würden so bei Brustkrebs vorgehen. Man schaut, wer Zeit hat, und macht dann die Therapie, die derjenige zufälligerweise am besten kann", sagt der Direktor und Chefarzt der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Er will Patienten zu passenderen und effektiveren Therapien in kürzerer Zeit verhelfen. Dafür braucht es vor allem eine bessere Diagnostik.
Bisher beschränkt sich diese auf die Einschätzung von Therapeut und Patient mittels Fragebogen und Gespräch. Dabei wissen Forscher jetzt schon, dass sich eine psychische Störung und die Veränderung durch eine Behandlung auch körperlich zeigen.
"Psychotherapie ist neues Lernen, das Überschreiben gemachter Erfahrungen. Das sind neurobiologische Vorgänge, die sich messen lassen", erklärt Keck. Doch welche Werte sind aussagekräftig? Das soll die weltgrößte Studie zu Psychotherapie zeigen, die derzeit unter Kecks Leitung läuft.
Die Wissenschaftler schauen den Probanden dabei ins Gehirn: Welche Regionen sind besonders aktiv? Was tut sich, wenn Patienten sich schreckliche Erlebnisse vorstellen? Zudem wird das Herz beobachtet, Stresshormone und Entzündungswerte werden gemessen, Risiko-Gene und Veränderungen im Erbgut analysiert (siehe Grafik). All das lässt sich im Blut zeigen. Die Forscher hoffen deshalb, eine einfache Methode für bessere Diagnose und Therapie zu finden. Keck: "Praktisch wäre, wenn ein Bluttest ausreicht."
Mut zur Veränderung
Eines wissen Therapeuten und Forscher bereits heute: Ob und wie schnell sich etwas zum Positiven wandelt, hängt auch stark von der Bereitschaft des Patienten ab. "Viele haben eine Therapie-Motivation, aber zunächst keine Veränderungs-Motivation", sagt Psychotherapeutin Dr. Natalie Philipp aus Regensburg. Der Behandler sensibilisiert, ordnet ein, unterstützt. Doch der Patient muss selbst handeln: herausfinden, was genau ihm nicht guttut, was er ändern will, an seinen Denkmustern und seinem Verhalten arbeiten. Philipp: "Wie aktiv und schnell die Leute das angehen, ist sehr unterschiedlich."
Doch auch wenn Patienten engagiert dabei sind, bleibt die Umsetzung ein herausfordernder Prozess – der auch nach der Therapie weitergehen sollte. "Kleinigkeiten, die anderen gar nicht auffallen, sind für mich enorme Schritte", erzählt Christel. Wenn sie wieder ewig über Erlebnisse grübelt und sich selbst anklagt, stoppt sie sich: "Bin ich noch in der Realität?"