Trauma nach der Flucht: Warum Geflüchtete oft nicht die nötige Therapie bekommen
Menschen in Seenot zu retten, egal welche Nationalität die Notleidenden haben – dazu sind alle Kapitäne von Schiffen verpflichtet. Ob durch das Internationale Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See oder das Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See: Über Jahrhunderte war Seenotrettung moralischer Konsens unter den Nationen. Nun zerbrechen diese Werte der Humanität an den europäischen Grenzen. Die Geschichte eines Traumas.
Flucht mit dem Schiff übers Mittelmeer
Es ist der 9. Juni 2023. Ahmed K., 25 Jahre, aus Syrien, steht am Hafen von Tobruk, einer Stadt im Osten Libyens. Es ist eine sternenklare Nacht. Das Schiff, das vor ihm ankert, sieht alt und verrostet aus. Hunderte von Leuten drängen sich im Dunkeln an Bord. Sie hoffen, dass der verrostete Kahn mit dem schönen Namen Adriana sie nach Italien bringen wird. Spätere Datenauswertungen werden zeigen, dass zwischen 500 und 750 Männer, Frauen und Kinder die Reise mit dem Schiff antreten.
Sie fliehen aus Syrien, Afghanistan und Pakistan. Viele von ihnen sind seit Monaten unterwegs, ausgezehrt und erschöpft. Auch Ahmed K. Die vergangenen vier Wochen war er mit bis zu 120 Männern eingepfercht in einer kleinen Wohnung in Tobruk City. „Wir durften tagsüber keine Fenster öffnen, damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Ich habe in der Zeit 30 Kilo abgenommen“, erinnert er sich.
Plätze an Deck des Schiffes kosten extra. Ahmed hat dafür noch 50 Euro übrig. „Unten im Laderaum des Schiffes kommen vor allem Frauen und Kinder unter“, erzählt er. Sie alle werden die Fahrt nicht überleben. Ahmed weiß um die Risiken der Flucht über das Mittelmeer. Er weiß, dass er auf diesem Schiff sterben kann. Er kann nicht mal richtig schwimmen. Warum geht er trotzdem an Bord?
Mit Zehntausenden Menschen im Flüchtlingslager
Zur Wahrheit gehört, dass Ahmed für sich keine andere Wahl sieht. Menschen, die wie er in Krieg und Elend leben, werden immer fliehen. Ahmeds Flucht vor dem Krieg in Syrien beginnt gemeinsam mit seinen Eltern und fünf Brüdern 2013. Die Familie strandet in Zaatari, einem Flüchtlingslager im Norden Jordaniens, etwa sechs Kilometer südlich der syrischen Grenze. Hier leben etwa 84.000 Menschen. Ahmed und seine Geschwister wachsen hier auf und gehen hier zu Schule. Es gibt einfache Hütten, Straßennamen, einen Fußballplatz.
Eine Zukunft sieht Ahmed im Lager nicht für sich. Jordanien steht wirtschaftlich nicht gut da, die vielen Geflüchteten überfordern die Gesellschaft. „In Jordanien durfte unter Geflüchteten immer nur ein Familienmitglied arbeiten“, sagt Ahmed. Als Junge bringt er sich selbst Englisch und Programmieren bei, entwickelt eine App, die sich zur Hauptkommunikationsplattform im Flüchtlingslager entwickelt. Er träumt davon, Informatiker zu werden, ein Haus zu bauen, in Sicherheit zu leben. Deswegen geht Ahmed am Abend des 9. Juni 2023 an Bord der Adriana.
Schiffskatastrophe auf dem Meer
In den frühen Morgenstunden des 13. Juni spitzt sich die Situation an Bord der Adriana zu. Das Schiff torkelt seit drei Tagen auf dem offenen Meer. Es gibt kein Wasser. Überall sind Fäkalien. Die Menschen schwimmen buchstäblich in ihren eigenen Exkrementen. Einzelne sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot, als Passagiere des Schiffs einen Notruf an eine Hilfsorganisation absetzen. Um 11 Uhr geht dieser bei der griechischen Küstenwache ein.
Ab jetzt sind Daten zu der sich anbahnenden Katastrophe verfügbar. Dies hätte der erste Moment einer Rettungsaktion der griechischen Küstenwache sein können. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die Tragödie, die sich in den kommenden Stunden an Bord abspielen wird, genau dokumentiert.
Um 12.47 Uhr entdeckt ein Frontex-Flugzeug das schlingernde Schiff und alarmiert erneut die griechische Küstenwache. Dies hätte der zweite Moment einer Rettungsaktion sein können. Doch erst drei Stunden später mobilisiert die griechische Küstenwache ein erstes Fahrzeug, einen Helikopter, der von der anderen Seite Griechenlands, von Lesbos aus, startet und nun Informationen zu dem Notruf liefern soll. Informationen, die bereits von dem Frontex-Flugzeug geliefert wurden.
Um 15.35 Uhr erreicht der Hubschrauber das Boot und schickt Aufnahmen, auf denen deutlich zu erkennen ist, dass die Menschen in Not sind, an die Einsatzzentrale. Dies ist der dritte Moment, an dem die griechische Küstenwache eine Rettungsaktion hätte starten können. Etwa viereinhalb Stunden nach dem ersten Notsignal aktiviert sie schließlich ihr erstes Schiff. Boot 920. Es ist kein Rettungs-, sondern ein Patrouillenschiff. Es legt in Kreta ab, was dreimal so weit entfernt vom Unglücksort ist wie die nächstgelegenen Häfen Pylos oder Kalamata.
Der Einsatz des Schiffes erfolgt erst nachts – und schlägt fehl. Die Adriana kentert. Zwischen 400 und 650 Menschen verlieren ihr Leben. Es ist eine der größten Schiffskatastrophen mit Geflüchteten im Mittelmeer. In den ersten Wochen nach der Katastrophe überschlagen sich die Medienberichte. Die New York Times schreibt am 3. Juli: „Alle wussten, dass das Boot der Migranten kentern wird. Doch niemand hat geholfen.“
Auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die vor Ort Überlebende mit dem nötigsten medizinisch versorgt hat, findet klare Worte: „Der Tod der Menschen ist eine direkte Folge der Abschreckungspolitik der EU, die Menschen dazu zwingt, lebensgefährliche Routen zu nehmen. Anstatt Geflüchteten eine sichere Überfahrt zu gewähren, bringt diese Politik Menschen um“, sagt Duccio Staderini, Einsatzleiter der Hilfsorganisation für Griechenland und den Balkan.
„Ich habe keine Tränen mehr“
Ahmed überlebt, als einer von 104 Geretteten. Wir verabreden uns, um über die Erlebnisse jener Nacht auf dem Schiff zu sprechen, die zu seinem Trauma geworden ist. Ahmed hat diese Geschichte schon viele Male erzählt, Anwälten, Menschenrechtsaktivisten, Mitarbeitern der Ausländerbehörde. Er sagt: „Ich habe keine Tränen mehr.“ Was Ahmed an Bord durchleben musste, ist die tiefste Form von Entmenschlichung, die man sich vorstellen kann. Zu schlimm, um im Detail darüber zu berichten.
Nur so viel: Ahmed verliert auf der Überfahrt seine zwei Freunde Nabeel und Basel, die mit ihm aus Jordanien geflohen waren. Ein weiterer Mann, Thayir Alrahhal, war geflohen, weil sein Sohn an Krebs erkrankt ist und er darauf hoffte, dass er im Ausland gerettet werden könnte.
Albträume nach der Flucht
Nach der Evakuierung nach Griechenland geht es Ahmed schlecht. „Sobald ich meinen Kopf auf das Kissen gelegt habe, kamen die Bilder der Freunde, der Tage auf dem Boot zurück. Ich träumte, ich sei auf See und versuchte, mich zu retten. Aber ich sank. 34 Menschen, die ich auf dem Schiff kannte, starben in dieser Nacht.“ Nach der Ankunft in Griechenland erlassen die griechischen Behörden umgehend Haftbefehl gegen neun Überlebende aus Ägypten. Man wirft ihnen vor, sich als Schleuser betätigt zu haben.
Alle neun werden im Eiltempo dem Staatsanwalt in Kalamata vorgeführt und kommen in Untersuchungshaft. Sie werden später freigesprochen. „Sofort nach der Ankunft in Griechenland nahmen sie uns die Handys weg. Ich konnte meiner Familie, die von der Katastrophe auf dem Schiff aus den Medien erfuhr, erst nach mehreren Tagen sagen, dass ich lebe.
In Griechenland fühlte ich mich nicht sicher. Wenn ich nachts ein Auto vorfahren hörte, hatte ich Angst, sie kämen, um uns abzuholen und einzusperren.“ Ahmed musste auf dem Schiff mit Fäkalien verunreinigtes Wasser trinken, er bekommt in Griechenland eine Darminfektion und muss operiert werden. Nach fünf Monaten kommt er nach Deutschland, zunächst ins Erstaufnahmezentrum in Lebach im Saarland.
Oft nur eingeschränkter Zugang zur Gesundheitsversorgung
Studien zeigen: Etwa 30 Prozent der Menschen mit Fluchterfahrungen leiden an posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder Depressionen. „Sie treffen auf eine prekäre Versorgungslage“, sagt Hannah Krunke. Die Psychologische Psychotherapeutin leitet die Ambulante Abteilung für Erwachsene im Zentrum Überleben. Das psychosoziale Zentrum mit Sitz in Berlin unterstützt Menschen, die schwere Gewalt überlebt haben. „Bundesweit können psychosoziale Zentren nur etwa vier Prozent der eigentlichen Bedarfe abdecken“, sagt sie. „Für unsere Arbeit bedeutet das, dass wir selektieren müssen. Es kann passieren, dass Menschen anrufen, die sehr schwer erkrankt sind und dringend Hilfe brauchen und wir können ihnen keine Therapie anbieten, weil andere Hilfesuchende noch schwerer betroffen sind.“
So gut wie alle Menschen, die im Zentrum Überleben unterstützt werden, stecken in schwebenden Asylverfahren. „Wenn Menschen Angst haben, dass sie jederzeit abgeschoben werden können, kann eine Psychotherapie schlecht wirken“, sagt Krunke. Zudem haben Geflüchtete in den ersten drei Jahren des Asylverfahrens nur eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem. Psychotherapie wird in dieser Zeit in der Regel nicht erstattet. Die Angebote der bundesweiten psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer sind daher zum größten Teil durch Spenden finanziert.
Fast keine Plätze für Traumatherapie
„Oft können wir den Menschen keine klassische Traumatherapie anbieten“, so Krunke. „Die Menschen, die zu uns kommen, sprengen westliche Therapiekonzepte. Viele sind kränker und haben Schlimmeres erlebt, als unsere Therapiemanuale vorsehen.“ Krunke verweist auf eine hausinterne Studie unter Betroffenen. Demnach haben die Patientinnen und Patienten des Zentrums Überleben im Schnitt elf traumatische, oft lebensbedrohliche Erlebnisse erlitten.
„Bevor sich die Betroffenen in einer Therapie ihrem Trauma stellen, brauchen sie einen gewissen Grad an Stabilisierung“, erklärt Hannah Krunke. Viele berichten, sich selbst nicht mehr zu kennen. „Wir klären auf, dass dies eine normale Reaktion des Körpers auf eine extreme Situation ist, dass dies eine Erkrankung ist. Das ist für viele erleichternd.“ Die Betroffenen entwickeln später mit Therapeutinnen und Therapeuten Strategien für traumatische Symptome wie schmerzhafte Erinnerungen oder Albträume. Bei vielen gehe es auch darum, Gründe zu finden, trotz der schwerwiegenden Erlebnisse weiterleben zu wollen.
Auch aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen in Deutschland sei die traumafokussierte Psychotherapie für geflüchtete Menschen besonders herausfordernd. Die klassische Methode bestehe darin, traumatische Erfahrungen unter therapeutischer Anleitung wieder und wieder hervorzurufen und diese einzuordnen. „Die Menschen sollen lernen: Das ist für mich ein sehr schmerzhafter Moment, aber ich kann das aushalten und ich kann diese schweren Gefühle überstehen und wieder verlassen“, beschreibt Krunke das Verfahren. „Im Kern geht es um die Erfahrung: Ich bin stärker als das Trauma.“
Hohe bürokratische Hürden
Ahmed lebt inzwischen in einer WG mit einem Freund. Sein Deutschkurs hat angefangen, nach sieben Monaten Wartezeit. Das Warten war schlimm für ihn: „Ich bin introvertiert, ich war viel allein, ich hatte nichts zu tun. Ich kenne zwar ein paar Leute, aber die sind alle sehr beschäftigt.“ Der Deutschkurs tue ihm gut, sagt Ahmed: „Ich kann lernen, treffe Menschen, mein Tag hat Struktur.“ In psychotherapeutischer Behandlung ist er derzeit nicht. Er würde gerne eine technische Ausbildung machen. Die Zustimmung, die Ahmed dafür von der Ausländerbehörde bräuchte, hat er allerdings nicht.
Quellen:
- Ärzte ohne Grenzen: Griechenland: Ärzte ohne Grenzen fordert Rechenschaft für schweres Schiffsunglück. Online: https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/... (Abgerufen am 28.08.2024)
- taz: Freispruch und viele Unklarheiten. Online: https://taz.de/... (Abgerufen am 28.08.2024)
- De Silva U, Glover N, Katona C: Prevalence of complex post-traumatic stress disorder in refugees and asylum seekers: systematic review. BJPsych Open: https://www.cambridge.org/... (Abgerufen am 28.08.2024)
- Ewing T: Refugees living with high levels of PTSD and depression. Monash University : https://www.monash.edu/... (Abgerufen am 28.08.2024)
- Zentrum Überleben: Fachstelle Für Traumatisierte & Überlebende schwerer Gewalt. Online: https://www.ueberleben.org/... (Abgerufen am 28.08.2024)
- Schock K, Böttche M, Rosner R et al. : Impact of new traumatic or stressful life events on pre-existing PTSD in traumatized refugees: results of a longitudinal study. European Journal of Psychotraumatology: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 28.08.2024)