Freud und die Psychoanalyse: Brauchen wir das heute noch?
Was fällt Ihnen zu Sigmund Freud ein? Vielleicht Penisneid? Eine seiner Thesen besagte, dass kleine Mädchen in ihrer psychosexuellen Entwicklung ein Gefühl von Minderwertigkeit entwickeln und sich unbewusst auch einen Penis wünschen. Mhmm, nun ja. Um es kurz zu machen. Freud irrte hier.
Er irrte noch mit vielen anderen Thesen über die menschliche Psyche. Man denke an den Ödipuskomplex. Demnach fühlen sich Kleinkinder unbewusst vom gegengeschlechtlichen Elternteil sexuell angezogen. Auch seine Theorie zur Hysterie, wonach die Krankheit Ausdruck unbewusster Konflikte und verdrängter Erinnerungen ist, ist überholt. In der heutigen Psychologie existiert nicht mal mehr der Begriff, weil er zu ungenau ist für die vielfältigen Störungen, die Freud damit beschrieb.
Die Gesellschaft zu Freuds Lebzeiten
Sind Freuds Theorien veraltet? Wie relevant ist Psychoanalyse 85 Jahre nach seinem Tod? Um Antworten zu finden, blicken wir zurück auf die Geburtsstunde der Psychoanalyse: Wien um 1900. Die Stadt ist Metropole eines Weltreichs, Schmelztiegel eines Vielvölkerstaats, einer Großmacht an der Schwelle zwischen Ost und West. Wien ist weltberühmt – für seine Kultur, sein aufstrebendes Bürgertum, seinen Glanz. Doch im Inneren gären Konflikte. Die bürgerliche Gesellschaft ist patriarchalisch, die Verhältnisse der Geschlechter sind zementiert.
„Für Männer bedeutete dies die Unterdrückung des vermeintlich Schwachen, des Weiblichen im eigenen Selbst, um die äußere Welt zu beherrschen“, beschreibt der Psychoanalytiker Jakob Müller die Seelenlage der Männer. Frauen hatten sich damals mit der Rolle der Mutter, der Jungfrau oder der Tochter zu begnügen. Wer aus diesem Korsett ausscherte, galt als liederlich, als gefallenes Mädchen. „Frauen waren gezwungen, eigene Wünsche nach Selbstentfaltung zurückzustellen“, so Müller. Kurz: „Die bürgerliche Ordnung beruhte auf einer Unterdrückung der eigenen Lüste.“
Freud erforscht Wirkung von Hypnose
Sigmund Freud spezialisiert sich damals auf die Behandlung von Hysterie, einer Erkrankung, die sich im Bürgertum ausbreitet. Eigentlich wäre der Arzt gerne in die Forschung gegangen, doch aufgrund des zunehmend antisemitischen Klimas bleibt dem Juden Freud der Weg an die Hochschule zunächst versperrt. So erforscht er die Wirkung von Hypnose bei Hysterie in seiner Wiener Praxis. Die meisten seiner Patienten sind weiblich. Freud versetzt sie in eine hypnotische Trance und sucht mit ihnen nach den Ursachen der Erkrankung.
Die Frauen berichten häufig über sexuelle Inhalte, Fantasien und Traumatisierungen. Nach der Hypnose scheinen sich die Symptome zu bessern. Doch die Wirkung hält nicht lange an. Freud beginnt zu experimentieren – und entwickelt eine Therapie, die auf einem offenen Gespräch beruht. Als einziges Relikt aus der Hypnose-Behandlung bleiben das Sofa und ein besonderer Gesprächsstil, bei dem frei assoziiert wird, erhalten.
Freud legt Grundstein zur Gesprächstherapie
Das markiert nicht nur die Geburtsstunde der Psychoanalyse, sondern der Gesprächstherapie überhaupt. Es ist der Grundstein der Psychotherapie, auf dem alle heutigen Verfahren aufbauen. Damals glich das einer Revolution. Bis dato war die Medizin davon ausgegangen, dass psychische Erkrankungen allein auf körperliche Fehlfunktionen oder krankhafte Erbanlagen zurückzuführen seien. Therapien beruhten auf teils fragwürdigen Eingriffen wie Wasserkuren oder Elektroschocks. Die Vorstellung, Patientinnen zuzuhören, sich in sie hineinzuversetzen, die Vorstellung, dass ein Gespräch heilsam sein kann, war damals für die etablierte Psychiatrie abwegig. Wir verdanken es Sigmund Freud, dass diese Vorstellung von psychischer Gesundheit heute selbstverständlich ist.
Freuds Psychoanalyse spaltet die Gesellschaft
Die Psychoanalyse Freuds ist jedoch nicht nur ein Heilverfahren, sondern eine umfassende Theorie über die menschliche Psyche. Ein neuer Denkstil und ein Kind ihrer Zeit, einer Epoche voller Widersprüche. Noch gären Konflikte im Kern der Gesellschaft leise, wenige Jahre später werden sie Europa in einen blutigen Krieg stürzen. Die Psychoanalyse ist eine Krisenwissenschaft. Sie ist ein Versuch, die heraufziehende Krise zu verstehen und zu bewältigen. Besonders Freuds Buch zur infantilen Sexualtheorie provoziert dabei das Bürgertum, findet jedoch auch Gehör bei Ärzten, Wissenschaftlern, Journalisten und Künstlern. Zugleich werden Freuds Thesen auch von der ersten Stunde an angefeindet.
Im Laufe des kommenden Jahrhunderts wird die Psychoanalyse in der deutschen Geschichte mal diffamiert und abgewertet, mal idealisiert. Mal gilt sie als Impulsgeberin der sexuellen Revolution, mal wird sie für den Verfall der Sitten in Haftung genommen. Mal ist sie effektives Heilmittel, mal esoterisches Geschwurbel. Selbst in Nazideutschland verschwindet die „jüdische Wissenschaft“ nicht. Vielmehr wird sie als ideologisches Erklärungsmodell für die Überlegenheit der arischen Rasse herangezogen.
Kritik an Freuds Theorien
Und heute? Aktuell kommt die Kritik vor allem vonseiten der akademischen Psychologie, etwa von Jürgen Margraf. „Klassische psychoanalytische Therapien wurden vom Wissenschaftlichen Beirat nie auf Wirksamkeit hin überprüft“, kritisiert der emeritierte Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. „Psychoanalyse profitiert vom Bestandsschutz. Es gab sie halt immer schon.“ Jürgen Margraf war in den Neunzigern Gründungsmitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie von Psychotherapeuten und Ärztekammern, der über die wissenschaftliche Anerkennung von Therapieverfahren entscheidet. „Ich habe mich damals mit anderen für eine Wirksamkeitsüberprüfung der Psychoanalyse eingesetzt. Aber im Beirat hatten wir nicht die Mehrheit.“
Noch heute schwelt der sogenannte Schulenstreit zwischen Verhaltenstherapie und psychoanalytischen Verfahren. Es geht dabei nicht nur um die Frage, welche Therapie besser wirkt, sondern auch um große Egos und um die Verteilung von staatlichen Geldern. Tatsächlich ist die Studienlage schwierig. Auch weil sich die klassische Psychoanalyse mit ihren bis zu 300 Therapiestunden schlecht in kontrollierte Studiendesigns pressen lässt.
Psychoanalytische Verfahren werden in Deutschland kaum noch gelehrt
Eine große Studie, die psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Therapien bei chronischen Depressionen vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass beide Therapien Symptome etwa gleich gut reduzieren. Die Verhaltenstherapie braucht dazu weniger Stunden, in der Psychoanalyse gelingt es dafür besser, sogenannte strukturelle Veränderungen herbeizuführen, also nachhaltige positive Änderungen in der Persönlichkeitsstruktur.
Eine andere Studie des Psychoanalytikers Stig Poulsen kommt zu dem Ergebnis, dass Verhaltenstherapie bei Magersucht effektiver wirkt als psychoanalytische Verfahren. Letztendlich hat wohl jede Form ihre Berechtigung.
Die Grundannahme hinter den Therapien ist jedoch völlig verschieden. Während die Verhaltenstherapie, stark vereinfacht gesagt, eher am Symptom ansetzt und die Patientinnen und Patienten Strategien lehrt, anders mit den Problemen umzugehen, geht es bei den psychodynamischen Verfahren darum, unbewusste Konflikte aufzudecken und zu bearbeiten, die hinter den psychischen Leiden stehen.
An staatlichen Universitäten in Deutschland werden psychoanalytische Verfahren heute kaum noch gelehrt. Dabei sind die Fakultäten nach einer Änderung der Prüfungsordnung 2020 dazu verpflichtet, psychoanalytische Methoden abzufragen. Inzwischen plädieren Studierende für eine stärkere Verankerung von psychoanalytischen Inhalten in der Lehre. So fordert etwa die Fachschafts-Konferenz der deutschen Psychologie-Fakultäten in einem offenen Brief, dass für die Besetzung neu geschaffener Lehrstühle „unterrepräsentierte psychodynamische Verfahren“ stärker berücksichtigt werden sollten.
Negative Gedanken erkennen und durchbrechen
Viel spannender als der akademische Diskurs ist jedoch die Frage: Wie funktioniert Psychoanalyse? Um das herauszufinden, sprechen wir mit der Psychoanalytikerin Cécile Loetz. Gemeinsam mit ihrem Mann Jakob Müller hat sie das Buch „Mein größtes Rätsel bin ich selbst“ geschrieben und betreibt mit ihm den Podcast „Rätsel des Unbewußten“.
Am liebsten erklären die beiden die Psychoanalyse anhand von Beispielen, wie dem einer verheirateten Frau mittleren Alters. „Sie hat sich jahrelang um die Kinder gekümmert, die inzwischen ausgezogen sind. Ihr Mann arbeitet. Sie gerät zunehmend in eine depressive Krise, ist ständig erschöpft, gleichzeitig innerlich rastlos, negative Gedanken nehmen überhand. Sie fühlt sich oft traurig und enttäuscht“, skizziert Cécile Loetz den typischen Fall einer Depression.
Jakob Müller ergänzt: „In einer Verhaltenstherapie würde es darum gehen, die negativen Gedankenschleifen zu durchbrechen. Das Besondere an der Psychoanalyse ist, dass wir die depressiven Symptome als Stimme hören, die versucht, uns etwas mitzuteilen.“ Loetz fügt hinzu: „Vielleicht ist diese Frau jemand, der immer zurückgesteckt hat. Vielleicht hat sie in früheren Beziehungen die Erfahrung gemacht, wenn ich selbst etwas fordere, wenn ich etwas will, dann fange ich an zu nerven, dann werde ich nicht mehr gemocht. Vielleicht hat die Frau diesen Glaubenssatz verinnerlicht und überträgt ihn auf neue Beziehungen, auf ihren Mann, ihre Kinder, Arbeitskollegen. Sie nimmt sich zurück. Eigene Bedürfnisse bleiben auf der Strecke. Wir nehmen uns in der Therapie Zeit, zu verstehen, was diese Person so traurig macht.“
Freuds Einsicht: Erkrankung hat mit der eigenen Geschichte zu tun
Müller berichtet aus seiner Erfahrung: „Oft können die Menschen gar nicht in Worte fassen, was nicht stimmt.“ Dass die Psychoanalyse immer nur in der Vergangenheit wühle, sei ein Klischee. „Das ist kein Selbstzweck. Wir bearbeiten eine Vergangenheit, die Menschen nicht loslässt, die auch in der Gegenwart fortwirkt. Im Grunde geht es darum, diese belastende Vergangenheit zu erkennen, zu betrauern und schließlich loszulassen, um frei zu sein für das, was noch kommt.“
Diese Form der Therapie ist anstrengend, sie kostet Zeit. Sie passt so gar nicht zur auf Effizienz getrimmten Verhaltenstherapie und bildet einen krassen Gegensatz zu digitalen Therapie-Apps oder Psychopharmaka. Und trotzdem brauchen wir Freuds Theorien. Vielleicht heute mehr denn je.
Eine seiner wesentlichen Einsichten war, dass psychische Erkrankungen mit der eigenen Geschichte, dem eigenen Sehnen, mit inneren Widersprüchen zu tun haben. Symptome sind nicht sinnlos, sondern sprechen die Sprache eines unverstandenen Leidens. Das befreiende Gefühl, diesem Leid eine Stimme zu geben, daraus ziehen viele Menschen die Motivation, eine psychodynamische Therapie zu machen. Vielleicht helfen Freuds Thesen auch, zu verstehen, warum die Welt aus den Fugen gerät, und unterstützen uns dabei, unseren Platz in dieser Welt zu finden. Ja, wir brauchen Freud auch heute noch.