Senioren Ratgeber

Frau Professor Specht, lange Zeit gingen Forscher davon aus, dass sich das Wesen eines Menschen bis zur Mitte des Lebens festigt und dann nicht mehr groß verändert. Stimmt das? 

Nein. Überraschenderweise scheint gerade das hohe Alter sensibel für Veränderungen zu sein – so wie bei jungen Menschen auch. In der mittleren Lebensphase hingegen wandelt sich die Persönlichkeit kaum.

Ein sanftmütiger Mensch kann sich im Alter noch zum Rebellen entwickeln?

Warum denn nicht! Jeder vierte über 70-Jährige nimmt noch einmal neue Persönlichkeitszüge an, haben wir in unseren Studien herausgefunden. So entwickelt eine Seniorin oder ein Senior beispielsweise ein neues Selbstbewusstsein, tritt dominanter auf als früher oder zeigt sich weniger harmoniebedürftig.

Jule Specht ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie. Sie forscht an der  Humboldt-Universität Berlin

Jule Specht ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie. Sie forscht an der Humboldt-Universität Berlin

Jemand wird über Nacht zu einem neuen Menschen? 

Ein abrupter Umbruch ist selten. Meist vollzieht sich die Veränderung in kleinen Schritten über viele Jahre.

Was ist der eigentliche Auslöser?

Da stehen wir am Anfang der Forschungen. Wir gehen davon aus, dass die Persönlichkeit maßgeblich durch Erfahrungen geformt wird. Fortlaufend prägt einen der Lebensweg, den man einschlägt, es ist ein gegenseitiges Wechselspiel. Schwerwiegende Ereignisse wie eine schlimme Krankheit oder der Eintritt in den Ruhestand beeinflussen es. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Mit Eintritt in die Rente legen viele Senioren etwas von ihrem Pflichtbewusstsein ab. Aber der Ruhestand allein kann nur einen Teil der Persönlichkeitsveränderungen erklären.

Was spielt noch eine Rolle?

Möglicherweise die Zukunftsperspektive. Es kann gut sein, dass betagte Menschen sich mit Hinblick auf ihren Tod ganz neu definieren und das Leben anders bewerten. 

Was halten Sie von Aussagen wie "Du bist jetzt im Alter genau wie dein Vater"?

Dahinter steckt die Annahme, dass in der letzten Lebensphase immer stärker Erbanlagen das Wesen bestimmen. Das deckt sich nicht mit unseren wissenschaftlichen Studien. Die Gene spielen im hohen Alter keine so entscheidende Rolle für die Ausprägung der Persönlichkeit.

Stimmt es, dass Menschen im Alter zur Sturheit neigen?

Das Gegenteil stimmt laut unseren Studien. Die meisten hochbetagten Menschen lassen gegenüber ihrer Umwelt eher Nachsicht walten. Vielleicht entsteht der Eindruck dadurch, dass ältere Menschen nicht mehr so offen für Neues sind.  

Altersstarrsinn ist also nur ein Klischee?

Ein Funken Wahrheit ist dran: Gerade im hohen Alter gibt es sehr individuelle Entwicklungsverläufe. Jenseits des Durchschnitts wird mancher extrem milde – oder eben auffällig starrsinnig. Und der fällt einem dann besonders auf.

Kann ich selbst meine Persönlichkeit beeinflussen?

Komplett umkrempeln lässt sich die Persönlichkeit nicht. Wer an sich arbeiten möchte, sollte ein Umfeld wählen, das offen ist für Wandel. Und man sollte neue Erfahrungen mit neuen Menschen suchen. Ein gutes soziales Netzwerk hilft einem, sich zu verändern. Änderungen fallen dann leichter, wenn die dafür nötigen Voraussetzungen vorhanden sind, also Gesundheit, Zeit und Muße.