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Was ist Geschlechtsdysphorie?

Geschlechtsdysphorie bedeutet, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht mit der erlebten Geschlechtsidentität übereinstimmt und die betroffene Person darunter leidet. Das ist beispielsweise bei Inter-Personen, Trans-Menschen oder Menschen der Fall, die sich als nicht binär identifizieren so.

Wenn etwas nicht komplett übereinstimmt, wird das auch Inkongruenz genannt. Die Geschlechtsinkongruenz ist erst einmal keine Krankheit. Aber wenn Trans-Menschen unter dieser Inkongruenz leiden, spricht man von einer Geschlechtsdysphorie.

Wie zeigt sich eine Geschlechtsdysphorie?

Das Unwohlsein im Körper nehmen junge Trans-Personen unterschiedlich wahr. Einige Kinder erleben sich seit ihrer frühen Kindheit im falschen Körper, während andere junge Menschen im Jugend- oder Erwachsenenalter ihre Dysphorie erkennen. Es gibt keine richtige Art und keinen richtigen Zeitpunkt dafür.

Prof. Dr. Claudia Wiesemann ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin und Mitautorin einer neuen Leitlinie zu Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie im Kindes- und Jugendalter. Die Medizinerin sagt: „Wir wissen heute, dass die Geschlechtsidentität nicht nur von den biologischen Merkmalen abhängt, sondern dass es auch eine empfundene Geschlechtsidentität gibt. Diese empfundene Geschlechtsidentität kann von der durch äußerliche Merkmale bestimmten Identität abweichen.“

Beispielsweise kann eine Person mit Penis sich als Frau fühlen oder sich fließend zwischen den Gendern bewegen. Für Trans-Menschen ist es ohnehin schwierig, dass sie sich im falschen Geschlecht fühlen. Der psychische Druck steigt durch Diskriminierung im Alltag.

Geschlechts…– was? Fachbegriffe einfach erklärt

Rund um Transgender-Medizin gibt es viele Fachbegriffe, die verwirren können. Das sind die wichtigsten Begriffe einfach erklärt.

  • Biologisches Geschlecht: Bezeichnet alle körperlichen geschlechtsspezifischen Merkmale, wie beispielsweise Sexualorgane. In der Vergangenheit wurde Geschlecht binär konstruiert. Diese Konstruktion lässt sich mit der Inter-Forschung nicht mehr halten.
  • Soziales Geschlecht: Auch Gender genannt, bezeichnet es die Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität. Das soziale Geschlecht ist komplett unabhängig von Sexualorganen.
  • Geschlechtsidentität: Das tief empfundene innere Gefühl der Zugehörigkeit zu einem, mehreren, nicht binären oder außerhalb des binären Geschlechtes. Die Geschlechtsidentität ist ein Spektrum.
  • Geschlechtspräsentation: Merkmale, die in der Gesellschaft mit einem bestimmten Geschlecht verbunden sind, beispielsweise Kleidung. Geschlechtspräsentation und Geschlechtsidentität können mit den gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen übereinstimmen, müssen es aber nicht.
  • Geschlechtsinkongruenz: Beschreibt die Erfahrung einer Person, bei der die Geschlechtsidentität und das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht nicht zusammenpassen.
  • Cis-Gender: Bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität mit der Geschlechtspräsentation übereinstimmt.
  • Transgender: Bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit der Geschlechtspräsentation oder dem zugewiesenen sozialen Geschlecht übereinstimmt. Bevorzugte Bezeichnung von Trans-Menschen im Vergleich zu dem veralteten „transsexuell“.
  • Geschlechtsdysphorie: Beschreibt negative Gefühle, wie Unbehagen, Stress oder Leid von Personen, die Geschlechtsinkongruenz erleben.
  • Binäres Geschlechtssystem: Das binäre Geschlechtssystem geht von zwei Geschlechtern (Mann und Frau) aus. Dieses (westliche) System blendet die Existenz von Trans- oder Inter-Personen aus. Mit dem binären Geschlechtssystem können soziale Rollen und Erwartungen verknüpft sein.
  • Genderqueer: Überbegriff für Menschen, die sich zwischen, außerhalb des binären Geschlechtsystems, sowohl männlich als auch weiblich, wechselnd, nichtbinär, als drittes Geschlecht oder als ungeschlechtlich (agender) sehen.
  • Transfrauen: Menschen, denen Behandelnde bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen haben. Auch AMAB (engl. assigned male at birth) genannt. Transfrauen haben eine weibliche Geschlechtsidentität angenommen, unabhängig davon welche Kleidung sie tragen oder ob sie geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen haben.
  • Transmänner: Menschen, denen Behandelnde bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen haben. Auch AFAB (engl. assigned female at birth) genannt. Transmänner haben eine männliche Geschlechtsidentität angenommen, unabhängig davon welche Kleidung sie tragen oder ob sie geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen haben.

Warum sind inzwischen viele junge Trans-Menschen sichtbar?

„Das hat ganz sicher mehrere Gründe“, ist Wiesemann überzeugt. Die Verfasserinnen und Verfasser der Leitlinie kamen zu dem Ergebnis, dass sich zwischen 1,2 und 2,7 Prozent der Jugendlichen in der Selbstauskunft als Transgender bezeichneten.

Eine weitere Studie schloss auch Jugendliche ein, die sich in ihrem Gender nicht sicher waren oder sich nicht eindeutig zuordnen konnten und wollten. Mit dieser Definition kamen Forschende auf einen Anteil von 2,5 bis 8,4 Prozent bei Jugendlichen. Beispielsweise ist die Zahl Jugendlicher, die eine Beratung in Bezug auf Transgender suchen, stark angestiegen[1]. Die Zahl der geschlechtsangleichenden Operationen in Deutschland hat sich bei Erwachsenen mehr als verdreifacht[2]. Forschende brauchen noch viel mehr Studien, um diese Entwicklung genauer zu verstehen.

Jüngste Studien ergeben, dass Forschende den Anteil gendernonkonformer oder Trans-Menschen in der Bevölkerung bisher unterschätzt haben[3]. „Trans-Menschen lebten in der Geschichte in verschiedensten Kulturen und hatten in der westlichen Welt große Schwierigkeiten, ihr Leben zu leben. Das ist heute anders: Wir stigmatisieren und diskriminieren Menschen heute weniger“, erklärt Wiesemann. Jüngere Studien gehen von einer Mischung mehrerer Faktoren aus: Gesellschaftspolitische Veränderungen[4], Entstigmatisierung[5] und ein verbesserter Zugang zur Gesundheitsversorgung[6].

Einen weiteren Faktor bezeichnet die Expertin als „epistemische Ungerechtigkeit“. Das bedeutet, dass jemandem auf ungerechte Weise Wissen oder das Recht, Wissen auszudrücken, vorenthalten wird. Das ändert sich langsam. Durch die sozialen Medien werden junge Menschen mit vielen Identitäten konfrontiert. Menschen, die sich außerhalb oder zwischen dem zweigeschlechtlichen Mann-Frau-System bewegen sind sichtbarer geworden und liefern Informationen darüber: „Junge Menschen haben jetzt eine Sprache, Worte um ihr Trans- oder Queer-Sein zu beschreiben. Wir sind mit einer sehr binären Form von Gender aufgewachsen. Die gesellschaftliche Unterdrückung kann so weit gehen, dass Menschen auch für sich selbst unsichtbar gemacht werden, weil sie keine Sprache für ihr Erleben haben.“

Trans-sein ist keine Modeerscheinung. Dass junge Menschen durch Gruppendruck Trans-Identitäten annehmen, hält die Expertin für unwahrscheinlich: „Junge Menschen haben eine größere Freiheit und Sicherheit, Identitäten auszuprobieren“, ergänzt die Expertin. Wie dieses Ausprobieren aussieht, ist ein individueller Weg.

Was bewirken Pubertätsblocker bei Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie?

Die Pubertät ist für alle Menschen eine komplizierte Zeit. Die beginnende Pubertät erhöht bei einigen Trans-Menschen die Geschlechtsdysphorie. Bei einer anhaltenden Dysphorie haben Endokrinologinnen und Endokrinologen die Möglichkeit, durch die Gabe von Hormonen die Produktion von Sexualhormonen zu blockieren: Das sind Pubertätsblocker. Sie ermöglichen, dass Betroffene keine Pubertät im falschen Geschlecht durchmachen müssen. Außerdem gibt es jungen Menschen Zeit, die sich mit ihrer geschlechtlichen Identität nicht sicher sind.

Die Forschung zu Pubertätsblockern für Trans-Menschen muss noch weiter ausgebaut werden, damit Forschende besser voraussagen können, wie sich die Pubertätsblocker langfristig auf die Körper junger Menschen auswirken[7].

Die Expertinnen und Experten der Leitlinie empfehlen Pubertätsblocker nur nach einer ausführlichen Anamnese, mit Übereinstimmung der Eltern und bei einer gründlichen körperlichen Untersuchung. Die Entscheidung für oder gegen Pubertätsblocker trifft ein interdisziplinäres Team gemeinsam mit den Betroffenen und den Eltern. Minderjährige müssen dafür einwilligungsfähig sein und ihre informierte Zustimmung geben.

Achim Wüsthoff, Hormonarzt und Mitautor der Leitlinie, erklärt, dass Behandelnde die Pubertätsblocker bei Geschlechtsdysphorie nicht vor dem Einsetzen der Pubertät verabreichen sollten. Es sei wichtig, dass die Jugendlichen das Wachstum von Hoden oder Brüsten erleben. So kann der junge Mensch spüren: Das passt für mich nicht.

Für Deutschland ist die Empfehlung der Leitlinienkommission klar: Die Entscheidung, ob Pubertätsblocker richtig sind, muss individuell erfolgen und wenn die Pubertät bereits begonnen hat.

Was, wenn ich mir mit den Pronomen einer Person nicht sicher bin?

Anhand der Kleidung lässt sich nicht automatisch schließen, wie eine Person angesprochen werden will. Das ist okay. Du kannst auch nicht den Namen einer fremden Person wissen. Nach den Pronomen fragen, kann genauso natürlich sein wie nach dem Namen zu fragen. Beispielsweise: „Hey, mit welchen Pronomen darf ich Dich ansprechen?“

Warum kann es schädlich sein, mit einer Behandlung zu warten?

Junge Trans-Menschen haben aufgrund der Geschlechtsdysphorie ab Beginn der Pubertät einen hohen Leidensdruck[8]. Der entsteht einerseits aus der Dysphorie, andererseits aus der erlebten Diskriminierung. Das kann in eine Angsterkrankung oder eine Depression übergehen. Trans-Kinder weisen im Vergleich zu ihren Altersgenossen häufiger psychische Auffälligkeiten auf, [9]besonders Angst und Depression[10] und Suizidgedanken[11]. Geschlechtsangleichende Maßnahmen können deshalb jungen Trans-Menschen mit anhaltender Dysphorie guttun[8].

Wie sich das langfristig auf die Menschen auswirkt, können die Betroffenen und auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte nur annehmen. Dieses Dilemma erfordert eine gründliche Abwägung. Behandelnde und Eltern müssen mögliche Risiken berücksichtigen, um den jungen Menschen bestmöglich zu helfen: „Ich kann auch Schaden anrichten, wenn ich eine zur Verfügung stehende Behandlung nicht gebe. Weil wir ja wissen, dass viele von diesen Jugendlichen sehr belastet sind“, fasst Mitautorin Dagmar Pauli im Gespräch mit dem Science Media Center die Ergebnisse der Leitlinie zusammen.

Eine kleine Minderheit geht später den Weg der Detransition – das ist die Abkehr von den medizinischen Maßnahmen der begonnenen Transition. Dies heißt nicht unbedingt, den Anfangszustand anzustreben, sondern beinhaltet beispielsweise auch nichtbinäre Menschen.

Eine Detransition bedeutet nicht, dass die jungen Menschen ihre Entscheidung für die OP bereuen[11]. Die Beziehung mit dem Körper ist ein Leben lang im Fluss ist und das eigene Selbstverständnis kann sich auch wieder ändern. „Es gibt ein Recht auf Irren, auch für Jugendliche“, betont Wieseman. Eine Detransition ist mit 0,5 bis 3 Prozent der Behandelten selten. Gründe für die Detransition bei Erwachsenen waren bei 82,5 Prozent der Befragten einer Studie aus den USA „externe Faktoren“, wie gesellschaftliches Stigma und familiärer Druck[11].

Brauchen Kinder mit Geschlechtsdysphorie eine Psychotherapie?

Eine Psychotherapie kann bei einer Geschlechtsdysphorie sinnvoll sein. Junge Trans-Menschen erleben viel Stress und Diskriminierung durch ihr Anderssein, das nennt man auch Minoritätenstress[12]. In der Psychotherapie können junge Menschen lernen, mit dem Stress umzugehen. Sie konzentriert sich auch auf begleitende psychische Störungen. Außerdem unterstützt der oder die Behandelnde die Identitätsfindung und begleitet eine mögliche Transition.

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Wie man trans* Kinder begleitet

Wie viele Menschen fühlen sich ihrem Geburtsgeschlecht nicht zugehörig? Und wie gehen Expert*innen und Eltern vor, wenn ein Kind dies äußert? zum Artikel

Was können Angehörige tun, wenn ihr Kind eine Geschlechtsdysphorie zeigt?

Die Lebensrealität des Kindes ernst zu nehmen und zuzuhören, gibt einer jungen Person das Gefühl: meine Bedürfnisse werden gehört. Viele junge Menschen mit Geschlechtsdysphorie entdecken gerade ihre eigene Geschlechtsidentität. Der Weg dieser Reise sollte für alle Beteiligten offenbleiben. Expertin Wiesemann empfiehlt: „Behalten Sie Ruhe.“

Die überwiegende Mehrheit der Personen, die in eine Trans-Sprechstunde kommen, beschließe laut der Expertin, keine Operationen vorzunehmen. Nur ein kleiner Teil gehe diesen sehr viel aufwendigeren Weg einer operativen Transition. „Geben sie Freiraum ohne zu dramatisieren“, ergänzt Wiesemann.

Die Expertin betont zudem, dass der junge Mensch die Unterstützung starker Eltern braucht, weil es auf dieser Reise wahrscheinlich zu Diskriminierung kommen wird. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörige und Eltern Selbstfürsorge betreiben und sich gegebenenfalls Hilfe suchen. Die Wartezeiten für Psychotherapieplätze sind lang. Deshalb gibt es zur Überbrückung oder für ein Erstgespräch Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen für Angehörige.


Quellen:

  • [1] Kaltiala R., Heino E., Työläjärvi M.; National Library of Medicine;: Adolescent development and psychosocial functioning after starting cross-sex hormones for gender dysphoria . Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [2] Respaut R, Terhune C, Conlin M; : Why detransitioners are crucial to the science of gender care.. Online: https://www.reuters.com/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [3] Pang K. C., De Graaf N. M., Chew D. et. al.; JAMA Network Open;: Association of Media Coverage of Transgender and Gender Diverse Issues With Rates of Referral of Transgender Children and Adolescents to Specialist Gender Clinics in the UK and Australia. Online: https://jamanetwork.com/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [4] GBE – Gesundheitsberichtserstattung des Bundes: Anzahl von Operationen zur Geschlechtsumwandlung in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2022 . Online: https://www.gbe-bund.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [5] F. Ashley; The Journal of Sexual Medicine: Shifts in Assigned Sex Ratios at Gender Identity Clinics Likely Reflect Changes in Referral Patterns. https://academic.oup.com/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [6] Olyslager F., Conway L.: Transseksualiteit komt vaaker voor dan u denkt. https://ai.eecs.umich.edu/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [7] Oberhofer E.; Springer Medizin: Suizidgefahr bei Jugendlichen mit Transidentität erhöht. Online: https://www.springermedizin.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [8] Zhang Q., Goodman M., Adams N. et. al.; International Journal of Transgender Health: Shifts in Assigned Sex Ratios at Gender Identity Clinics Likely Reflect Changes in Referral Patterns. Online: https://www.tandfonline.com/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [9] Russell S; : Sexual Minority Youth and Suicide Risk. Online: https://www.lgbtqi2stoolkit.net/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [10] van der Miesen A, Steensma T., de Vries A et. al.; National Library of Medicine: Psychological Functioning in Transgender Adolescents Before and After Gender-Affirmative Care Compared With Cisgender General Population Peers. Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [11] Turban J., Loo S, Almazan A.; National Library of Medicine: Factors Leading to "Detransition" Among Transgender and Gender Diverse People in the United States, A Mixed-Methods Analysis . Online: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • [12] Meyer I.; APA Psycnet: Resilience in the study of minority stress and health of sexual and gender minorities, Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity. Online: https://psycnet.apa.org/... (Abgerufen am 25.06.2024)