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Noch vor drei Jahren hätte Karyna Tsarova nicht gedacht, dass sie mal in einem fremden Land lebt. Nur Monate später musste sie gemeinsam mit ihrer Mutter aus der Ukraine fliehen, kurz nach Kriegsbeginn, weil das Insulin knapp wurde. Heute wird ihr Typ-1-Diabetes in Deutschland gut versorgt. Eine Positivgeschichte, in der unser Gesundheitssystem gut funktioniert hat. Dem ist nicht immer so: Rezan Ibo aus Syrien suchte hierzulande Schutz vor dem Islamischen Staat. Er ist seit der Geburt blind und bekam in seinem ersten Jahr in Deutschland keinen Blindenstock. Das hätte anders laufen können, wären da nicht die Hürden, die für viele Migrantinnen und Migranten schier unüberwindbar scheinen.

Einwanderer: Wichtig für unser Gesundheitssystem

Rund 21 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte leben in Deutschland. Das heißt, sie sind entweder seit 1950 selbst eingewandert oder direkte Nachkommen. Sie alle bringen ihre ganz eigenen Geschichten mit und auch Herausforderungen, wie oben geschildert. Durch ihre Biografien, ihre Vergangenheit und ihre ethnische Herkunft setzen sie hier im Land viele wertvolle Impulse. Und: Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind unverzichtbar für unsere Gesundheitsversorgung. Zum einen durch die kulturellen Perspektiven, die sie mitbringen. Und zum anderen, weil sie das System als Fachkräfte maßgeblich mitgestalten.

2019 waren 940.000 der 4,2 Millionen Erwerbstätigen im Gesundheitswesen selbst zugewandert oder hatten eine familiäre Einwanderungsgeschichte. In der Altenpflege lag ihr Anteil 2022 bei gut 30 Prozent der dort Erwerbstätigen. Ebenso bemerkenswert: Zwischen 2010 und 2020 ist die Zahl der ausländischen Ärztinnen und Ärzte auf etwa das Zweieinhalbfache gestiegen. Besonders hoch war der Zuwachs der syrischen Medizinerinnen und Mediziner. Seit 2010 stieg ihre Zahl um mehr als 4000 Personen.

Oft prägt Diskriminierung den Alltag Zugewanderter

Obwohl zugewanderte Menschen mit anpacken, stehen manche selbst vor großen Herausforderungen, im Alltag und ganz besonders im deutschen Gesundheitswesen. Wegen ihrer Herkunft sind sie oft Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt. Bürokratische Hürden erschweren ihnen den Zugang zu medizinischer Versorgung. Annemarie Weber ist Expertin für Public Health und leitet die Open.med-Praxis in München, die von der Hilfsorganisation Ärzte der Welt betrieben wird. Bei ihrer Arbeit erlebt sie täglich, wie unterschiedlich unsere Gesellschaft mit Neuankömmlingen umgeht.

In der Praxis betreuen ehrenamtliche Ärztinnen und Ärzte Menschen, die keine Krankenversicherung haben. Auf mehrere Hunderttausend wird ihre Zahl geschätzt. Genaue Daten gibt es nicht, denn die meisten werden nicht erfasst. Viele deutsche Staatsbürger und -bürgerinnen ohne Wohnsitz fallen darunter, aber auch viele EU-Bürger und -Bürgerinnen sowie Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, auch Menschen ohne Papiere genannt. Sie leben oft in engen Wohnungen oder auf der Straße, arbeiten ohne Vertrag, häufig unter widrigen Bedingungen. Und sie trauen sich nicht, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie krank sind. Denn Menschen ohne Papiere müssen zuvor beim zuständigen Sozialamt einen Krankenschein beantragen. Das Sozialamt ist jedoch gesetzlich verpflichtet, sie der Ausländerbehörde zu melden. „In anderen EU-Ländern ist das nicht so“, sagt Weber.

Menschen ohne Papiere mitunter ohne Behandlung

Bisweilen werden Menschen ohne Papiere selbst in medizinischen Notfällen abgewiesen, obwohl Ärztinnen, Ärzte und Kliniken zur Hilfe verpflichtet sind. Der Grund: Die Abrechnung der Leistungen ist kompliziert und läuft oft ins Leere. In einem Fall bekam Ärzte der Welt mit, dass aus diesem Grund die Polizei hinzugerufen wurde – was klar gegen das Arztgeheimnis verstößt, das die Patientinnen und Patienten in diesem Moment schützen sollte.

Entsprechend fordern verschiedene Organisationen in Deutschland, dass es auch anonyme Behandlungsscheine geben sollte. Ebenso, dass die Krankenversicherung für alle Menschen in Deutschland zugänglich wird und die Mindestbeiträge von aktuell um die 200 Euro pro Monat sinken. „Die Gesundheit darf nicht mehr so sehr von den finanziellen Möglichkeiten und der Herkunft von Menschen abhängen“, so Weber. Das würde nicht nur Personen ohne, sondern auch mit deutscher Staatsbürgerschaft zugutekommen, die in prekären Arbeits- und Wohnsituationen leben. Laut einer Berechnung der Techniker Krankenkasse zahlten Menschen mit Einwanderungsgeschichte zwischen 2013 und 2019 etwa doppelt soviel Kassenbeiträge ein, wie sie in Anspruch nahmen.

Behörden entscheiden über Behandlung von Asylsuchenden

Auch eine Gruppe, die eigentlich Anspruch auf eine medizinische Versorgung hätte, muss die Münchner Praxis aufsuchen: Asylsuchende. Zwar haben sie laut Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf Impfungen, die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie Schwangerschaftsvorsorge, Geburtsheilkunde und U-Untersuchungen für Kinder. Versorgungslücken und Bürokratie verhindern jedoch, dass viele Geflüchtete und Asylsuchende in eine reguläre Arztpraxis gehen können. Zum Beispiel entscheidet in vielen Bundesländern nicht die Arztpraxis, wie akut eine Erkrankung ist, sondern eine Behörde. Dort brauchen Asylsuchende außerhalb eines Notfalls erst einmal einen Behandlungsschein vom Sozialamt, mit dem sie dann in die ärztliche Praxis gehen dürfen.

„Zugleich sind Menschen in Gemeinschaftseinrichtungen oft größeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt“, sagt Claudia Hövener vom Robert Koch-Institut in Berlin. Magen-Darm-Keime etwa verbreiten sich schneller, ebenso Atemwegsinfekte wie Corona. Gesundheitswissenschaftler Amand Führer von der Universität Halle (Saale) schreibt im Bundesgesundheitsblatt: „Hierbei wird deutlich, dass die Ausgliederung von Asylsuchenden aus dem Sozialsystem der Gesundheit der Betroffenen schadet, teuer ist und zudem ethische und rechtliche Fragen aufwirft.“ Insbesondere den großen Ermessensspielraum der Sozialämter in der Kostenübernahme kritisiert er. Auch, dass bisher nur wenig getan wird, um etwa Sprachbarrieren in der medizinischen Versorgung abzubauen.

Geflüchtete: Hürden für Menschen mit Behinderung

Besonders komplex wird es für Geflüchtete mit Einschränkungen. Das musste der blinde Rezan Ibo erfahren, als er 2015 aus Syrien in Deutschland ankam. Einfachste Hilfsmittel wurden ihm anfangs vom deutschen Staat verwehrt, ebenso ein Deutschkurs in der örtlichen Volkshochschule. Integrationskurse für geistig Behinderte gibt es überhaupt nicht in Deutschland.

Gehörlose müssen in Unterkünften oft ohne Gebärdendolmetscher zurechtkommen. So können sie ihre Asylverfahren gar nicht erst gleichberechtigt durchlaufen. Susanne Schwalgin, die für die gemeinnützige Organisation Handicap International in München arbeitet, sagt: „Schon deutsche Staatsbürger mit einem Kind mit Behinderung verzweifeln am System. Sie können es ohne Hilfe beinahe nicht schaffen, die nötigen Hilfen und Hilfsmittel zu bekommen, da die Bürokratie so kompliziert ist. Wie sollen Menschen mit Behinderung und Fluchterfahrung das schaffen?“

Hinzu kommt, dass Einrichtungen der Teilhabe oft niemanden zum Übersetzen haben und Einrichtungen der Flüchtlingshilfe keinen Einblick in die Teilhaberegelungen bekommen. So scheint die Bürokratie in Deutschland immer da besonders zuzuschlagen, wo es Menschen ohnehin gerade schwer haben.

Zugewanderte: Gesundheit als gut bewertet

„Wie unter einem Brennglas zeigen uns Menschen mit Einwanderungsgeschichte, wo es in unserem Gesundheits- und Sozialsystem noch hakt – und wo wir für alle etwas verbessern können“, sagt Dr. Cihan Sinanoğlu vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Er hat im „Nationalen Diskriminierungs- und Rassismus-Monitor“ im Auftrag der Bundesregierung ermittelt, wie es um die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte steht: im Großen und Ganzen gar nicht schlecht.

So wurden Personen verschiedenster Herkunft unter anderem gebeten, ihren Gesundheitsstatus einzuschätzen. Das Ergebnis: Im Allgemeinen bewerteten sie ihre Gesundheit gut. Dennoch zeigt die Analyse auch Diskriminierung und gesundheitliche Folgen auf. Ein Beispiel: Das Forschungsteam versandte mehr als 6700 Terminanfragen an zufällig ausgewählte Arztpraxen. Die Anfrage war stets gleich formuliert, der Patientenname allerdings entweder typisch deutsch wie Florian Schneider, nigerianisch wie Umar Atanda oder türkisch wie Seda Yilmiz. Anfragen von Schmidts oder Schneiders wurden öfter mit einem Terminvorschlag beantwortet als die anderen.

Psychische Beschwerden Geflüchteter oft nicht ernst genommen

Auffallend war die Benachteiligung in der psychotherapeutischen Versorgung, obwohl gerade Menschen, die vor Krieg und Krisen geflüchtet sind, viel häufiger mit Traumafolgestörungen kämpfen als andere. Gerade eine gute Traumatherapie ist umso wirksamer, je früher sie beginnt. Viele gemeinnützige Organisationen, Initiativen und Zentren bemühen sich, die Lücke zu schließen. Sie sind in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF) organisiert.

Menschen, denen man ansieht, dass sie einen Migrationshintergrund haben, berichteten zudem häufig, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. Besonders muslimische und schwarze Frauen gaben an, sogar Arztbesuche aufzuschieben, aus Sorge, dort gedemütigt zu werden. Auf der Onlineseite „Black in Medicine“ werden solche Erfahrungen anonym gesammelt. Selbst die Gesundheitsversorgung, die allen Menschen einen geschützten Raum bieten sollte, ist demzufolge nicht frei von Rassismus.

Dazu kommt, dass fremdenfeindlich motivierte Gewalt hierzulande wieder zunimmt. Im ersten Halbjahr 2024 verzeichnete die Polizei 519 Angriffe auf Geflüchtete und Asylbewerberinnen und -bewerber. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. 46 Menschen wurden verletzt, darunter sechs Kinder. Das Robert Koch-Institut fand durch eine Untersuchung heraus, dass gerade Menschen, die fremdenfeindlich ausgegrenzt werden, öfter als andere an Depressionen und Ängsten sowie an körperlichen chronischen Erkrankungen leiden. Erschreckend: Selbst Gesundheitspersonal, das aus anderen Ländern zu uns kommt, wird diskriminiert. Und das, obwohl es uns hilft, klaffende Versorgungslücken zu schließen.

Gesundheitssystem fehlt Blick über Kulturgrenzen

Ein weiteres Problem: Unserem Gesundheitssystem mangelt es an interkultureller Kompetenz. Natürlich könne sich nicht jeder Arzt oder jede Ärztin in jeder Kultur auskennen, sagt der Psychologische Psychotherapeut Dr. Ali Kemal Gün aus Köln: „Aber das ist auch gar nicht nötig. Um über Kulturgrenzen hinweg zu diagnostizieren und gut zu behandeln, muss ich vor allem offen und neugierig auf mein Gegenüber eingehen.“ Das bedeute auch, fähig zu sein und bereit dazu, sich selbst zu reflektieren, empathisch und flexibel zu sein und Vielfalt anzuerkennen.

„Hier geht es um eine Grundhaltung, kulturelle Einflussfaktoren bei sich selbst und bei anderen zu respektieren und produktiv einzusetzen“, so Gün weiter. Er therapiert Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte. Und er ist Integrationsbeauftragter für die LVR-Klinik Köln. In diesem Zuge hat er sich dafür eingesetzt, dass mehr gedolmetscht wird, persönlich oder per Telefon. Ali Kemal Gün dazu: „Wenn schneller klar ist, was einem Menschen fehlt, profitiert der Patient davon und das Gesundheitssystem spart das Geld bei der weiteren Versorgung.“

Kulturelle Unterschiede müssten dafür aber aktiv in die medizinische Versorgung integriert werden. Zudem könnten andere Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit auch eine Chance für unser Gesundheitssystem sein. Wenn wir es schaffen, es Eingewanderten einfacher zu machen, sich im Gesundheits-, dem Teilhabe- und Pflegesystem zurechtzufinden, profitieren letztlich alle in diesem Land – egal, ob mit oder ohne Einwanderungsgeschichte.


Quellen:

  • Statistisches Bundesamt: 24,3 % der Bevölkerung hatten 2022 eine Einwanderungsgeschichte. Online: https://www.destatis.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Lau T: Integration und Migration: Unverzichtbare Einwanderung. Online: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Bundesamt für Justiz: Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet 1) (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) § 87 Übermittlungen an Ausländerbehörden. Online: https://www.gesetze-im-internet.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Diakonie Deutschland: Wissen kompakt: Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere. Online: https://www.diakonie.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Ärzte der Welt: Gesundheitsreport 2023. Online: https://www.aerztederwelt.org/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) gGmbH: Systemrelevant: Der Beitrag von Zugewanderten im Gesund- heitswesen, Zahlen und Fakten zum SVR-Jahresgutachten 2022. Online: https://www.svr-migration.de/... (Abgerufen am 27.08.2024)
  • Bundesverband Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung: Anonyme Behandlungsscheine und Clearingstellen. Online: https://anonymer-behandlungsschein.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Ärzte der Welt: Gesundheitsreport 2019. Online: https://www.aerztederwelt.org/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Führer A: Determinanten der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Deutschland. Online: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Thelen P: Zuwanderer zahlen deutlich mehr ein, als sie in Anspruch nehmen. https://www.tagesspiegel.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Deutscher Bundestag: Wartefristen für Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG im Lichte der der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgeric. Online: https://www.bundestag.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Informationsverbund Asyl und Migration e. V.: Leistungseinschränkungen im AsylbLG. Online: https://www.asyl.net/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung: Rassismus und seine Symptome. Online: https://www.rassismusmonitor.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Netzwerk Schwarzer Mediziner*innen: BLACK IN MEDICINE, Schwarzsein in der Medizin heisst…. Online: https://blackinmedicine.de (Abgerufen am 16.08.2024)
  • ZEIT online: Mehr als 500 Übergriffe auf Geflüchtete im ersten Halbjahr. Online: https://www.zeit.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)
  • Sammann L: Warum viele kommen und wieder gehen. Online: https://www.deutschlandfunk.de/... (Abgerufen am 16.08.2024)