Baby und Familie

Die Kaiserschnittrate ist in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren stark gestiegen: Während laut Statistischem Bundesamt 1991 noch 15,3 Prozent der Entbindungen per Kaiserschnitt (Sectio) erfolgten, waren es 2018 mit 29,1 Prozent rund doppelt so viele. Die steigende Kaiserschnittrate hat immer wieder zu großen Diskussionen unter Fachleuten geführt. "Die Sectio-Rate in Deutschland ist unnötig hoch und führt zu kurz- und langfristigen gesundheitlichen Nachteilen für Mütter und Kinder", sagt Dr. Patricia Van de Vondel, Chefärztin der Frauenklinik im Krankenhaus Porz am Rhein. "In Skandinavien liegt die Sectio-Rate unter 20 Prozent und – das ist das Wichtigste! – das Ergebnis für Mutter und Kind ist dort besser als in Ländern mit deutlich höheren Sectio-Raten!"

Prof. Dr. Holger Stepan, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin, Universitätsklinikum Leipzig, sagt dagegen: "Ich finde die Kaiserschnittrate in Deutschland vertretbar, weil niemand weiß, was die ‚richtige‘ Kaiserschnittrate ist."

Seit heute gibt es die erste S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt. S3-Leitlinien müssen den  höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Beteiligt waren neben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe weitere 17 medizinische Fachgesellschaften und Verbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie mehrere Institutionen für Qualitätssicherung. Die Leitlinie wurde entwickelt, um für mehr Klarheit zu sorgen, wann einer Schwangeren zu einem Kaiserschnitt geraten werden soll und wann nicht.

Denn die Raten unterscheiden sich auch zwischen den Bundesländern erheblich. Dabei zeigt sich ein West-Ost-Gefälle: In den neuen Bundesländern kommen deutlich weniger Kinder per Operation zur Welt. Die niedrigste Kaiserschnittrate hatte Sachsen im Jahr 2017 mit 24 Prozent. Die höchste Sectio-Rate wies das Saarland mit 37,2 Prozent auf.

Nur zehn Prozent der Kaiserschnitte medizinisch zwingend

Zehn Prozent aller Kaiserschnitte in Deutschland werden aufgrund zwingender medizinischer Gründe vorgenommen, um das Leben der Mutter oder des Kindes zu retten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das Kind in Querlage liegt, die Gebärmutter zu reißen droht oder die Plazenta den Geburtskanal verschließt (Placenta praevia).

90 Prozent aller Kaiserschnitte in Deutschland gelten aus medizinischen Gründen nicht als zwingend. Es gibt also Handlungsspielraum. Vor-und Nachteile müssen laut der neuen Leitlinie abgewogen werden. Zu den häufigsten Gründen für einen Kaiserschnitt zählen in Deutschland laut der Bundesauswertung des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG):

  • Ein Kaiserschnitt bei einer vorangegangenen Geburt ("Zustand nach Sectio")
  • Auffällige Herztöne des Kindes ("pathologisches CTG")
  • Verzögerter Geburtsverlauf ("protrahierte Geburt").

Kaiserschnitt hat Nachteile für Mutter und Kind

"Die Kaiserschnittrate ist deutlich höher, als sie sein sollte", meint auch Prof. Dr. Ulrich Thome, Leiter der Abteilung für Neonatologie, Universitätsklinikum Leipzig. "Für die Frau stellt der Kaiserschnitt eine schwere Verletzung dar, nämlich einen offenen chirurgischen Eingriff. Dabei kann es zu einer Reihe von Schwierigkeiten im weiteren Leben kommen, angefangen vom Bridenileus (Darmverschluss durch Narbenbildung im Bauch; Anm. d. Red.), bis hin zu größeren Schwierigkeiten bei späteren chirurgischen Eingriffen, zum Beispiel bei Krebserkrankungen. Außerdem verursacht der Kaiserschnitt eine erhöhte Komplikationsrate bei nachfolgenden Schwangerschaften und Geburten."

Auch für das Kind habe der Kaiserschnitt Nachteile. "Die Anpassung an die Luftatmung ist häufig verzögert, sodass Kinder nach Kaiserschnitt häufiger als vaginal geborene Kinder wegen Atemstörungen in die Kinderklinik übernommen werden müssen", erklärt Thome. "Ein weiteres Problem ist die bei Kaiserschnitt nicht richtig funktionierende Übergabe der mütterlichen Bakterienflora an das Kind. Das Mikrobiom per Kaiserschnitt geborener Kinder unterscheidet sich auch nach Jahren noch von dem vaginal geborener Kinder, was unter anderem mit einer höheren Rate von Adipositas und Allergien assoziiert ist." Studien hätten ergeben, dass der Aufbau einer guten Stillbeziehung und einer guten Mutter-Kind-Bindung nach vaginaler Geburt einfacher sei und häufig besser gelinge als nach einem Kaiserschnitt.

Skandinavien: Weniger Kaiserschnitte, geringere Sterblichkeit

Wie lässt sich die Anzahl der Kaiserschnitte also reduzieren? Zu dieser Frage lohnt sich ein Blick auf unsere Nachbarländer. In Europa liegt Deutschland mit seiner Kaiserschnittrate im Mittelfeld. Die höchste Rate weist mit 52,2 Prozent Zypern auf, gefolgt von Italien mit 38 Prozent. Auffallend niedrige Raten verzeichnen unsere Nachbarn im Norden: Island (14,8 Prozent), Finnland (16,8 Prozent), Norwegen (17,1 Prozent) und Dänemark (22,1 Prozent). In diesen Ländern sterben laut des Europäischen Berichtes für Perinatalgesundheit weniger Neugeborene als in Deutschland. Auch die Müttersterblichkeit ist niedriger oder ähnlich niedrig.

"Ich denke, dass einer der Gründe für den großen Unterschied im Gesundheitssystem selbst liegt", sagt Dr. Georg Macharey, Leitender Oberarzt der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie, Helsinki University Hospital, Finnland. "Im finnischen System gehören die Gesellschaften, die die Krankenhäuser besitzen, den Kommunen. Die Kommunen bezahlen auch die Rechnungen der Patienten, also im Prinzip bezahlen sie sich selbst." Dies führe dazu, dass die Ärzte in Finnland preiswert die bestmögliche Versorgung zu liefern haben. Kaiserschnitte sind prinzipiell teurer als vaginale Geburten. Da das Krankenhaus keinen Gewinn machen kann, gebe es in Finnland keine finanziellen Anreize für Kaiserschnitte.

Und: "Trotz der niedrigen Kaiserschnittrate hat Finnland eine der niedrigsten Raten an mütterlicher und neonataler Morbidität und Mortalität (Erkrankung und Sterblichkeit von Mutter und Kind; Anm. d. Red.). Die finnischen Raten sind sogar noch niedriger als in Deutschland", sagt Macharey. Das liege sicherlich an vielerlei Faktoren. "Aber einer der wichtigsten Gründe dafür ist bestimmt, dass in Finnland alle Geburtskliniken – mit einer Ausnahme in Lappland – mit einer Zahl von unter 1.000 Geburten pro Jahr geschlossen wurden", sagt der Experte. "Diese Zentralisierung führt zu mehr Qualität durch Quantität und Routine."

Auch in Norwegen liegt die Kaiserschnittrate seit vielen Jahren deutlich unter 20 Prozent. "Nach meiner Auffassung besteht das norwegische Erfolgsrezept in einer differenzierten Anpassung der Schwangerschaftskontrollen und der Geburtsüberwachung an das bestehende Risiko, um unnötige Eingriffe zu vermeiden", sagt Prof. Dr. Jörg Kessler, Oberarzt in der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie am Haukeland Universitätsklinikum Bergen, Norwegen. "Unkompliziert verlaufende Geburten werden von den Hebammen allein betreut." Außerdem hätten viele Geburtsabteilungen in Norwegen Sprechstunden eingerichtet, um Schwangere mit Angst vor der Geburt oder früherer traumatischer Geburtserfahrung zu beraten. "Es erfordert die gemeinsame Anstrengung von Ärzten und Hebammen, den Schwangeren die nötige Zuversicht zu geben, dass eine normale vaginale Entbindung für die meisten eine sichere Alternative darstellt – mit einer niedrigen Komplikationsrate für Mutter und Kind."

Welche Rate wäre ideal?

Wie hoch eine nach Berücksichtigung aller Faktoren sinnvolle Kaiserschnitt-Rate wäre, ist unbekannt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt nach Analyse der weltweit verfügbaren Daten an, dass eine Kaiserschnittrate von bis zu zehn Prozent – natürlich unter weiteren Voraussetzungen – die Sterblichkeit von Müttern und Kindern insgesamt senkt. Über diese Rate hinaus sieht die Organisation keinen positiven Einfluss mehr auf mütterliche und kindliche Mortalität. Ob eine höhere Kaiserschnittrate möglicherweise das Risiko für andere Geburtsschäden senkt oder erhöht, kann nach Auskunft der WHO noch nicht klar gesagt werden. Es gebe zu wenig Daten, um eine Aussage treffen zu können. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) schreibt in der Einleitung ihrer Leitlinie, als gesichert dürfe gelten, "dass eine Kaiserschnittrate über 15 Prozent "keinen günstigen Einfluss auf die mütterliche und neonatale Morbidität und Mortalität hat und deshalb gut medizinisch begründet sein sollte."

"Das Ziel, die Sectio-Rate zu senken, ist richtig", sagt Dr. Patricia Van de Vondel. "Aber ich vermisse die Forderung nach besserer Ausbildung und besserer Organisation der geburtshilflichen Abteilungen – zum Beispiel einer Zentralisierung; keine Geburtshilfe ohne Kinderklinik, Geburtshilfe sollte nur durch Geburtshelfer geleistet werden, besserer Personalschlüssel und so weiter. In den bestehenden Strukturen wird es meines Erachtens nicht gelingen, die Sectio-Rate zu senken."

"Die Leitlinie stellt hohe Anforderungen an eine qualitativ hochwertige Geburtshilfe", sagt Dr. Katrin Löser, Leitende Oberärztin der Geburtshilfe, Krankenhaus Südjütland / Sygehus Sønderjylland, Dänemark. "Diese ist nur zu gewährleisten bei ausreichendem Fachpersonal. Gerade die individuelle Beratung und Betreuung der Schwangeren sowie das gemeinsame Abwägen der verschiedenen Optionen im Vorfeld der Geburt erfordert viel Zeit und Geduld. Das Ausbilden von Experten erfordert Training und Zeit. Des Weiteren empfiehlt die Richtlinie zum Teil die Überweisung an andere Häuser – etwas, das in einem monetär (und zum Teil von Prestige) geprägten Gesundheitssystem schwierig sein kann."

In welchen Situationen sollen künftig weniger Kaiserschnitte gemacht werden?

Die Autoren der Leitlinie gehen auf eine Vielzahl geburtshilflicher Situationen ein. So legen sie dar, dass die vaginale Geburt nach einer unkomplizierten Schwangerschaft nach aktueller Studienlage insgesamt vorteilhafter für Mütter und Kinder ist als der Kaiserschnitt.

Hat eine Schwangere bereits zuvor per Kaiserschnitt entbunden, ist der optimale Geburtsmodus – obwohl hier bisher oft aufgrund dessen ein weiterer Kaiserschnitt gemacht wurde – nach heutiger wissenschaftlicher Literatur unklar. Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Die Autoren der Leitlinie schätzen die vaginale Geburt nach einem vorangegangenen Kaiserschnitt aber für die meisten Frauen als sicher ein. Hier dürften also künftig weniger Kaiserschnitte gemacht werden. "Bei der Entscheidung des Geburtsmodus bei Zustand nach Kaiserschnitt kommt es auf die Risikoselektion an", sagt Ulrich Thome. "Wie sieht die Uterusnarbe im Ultraschall aus? Ist die Plazenta in die Narbe eingewachsen? Wo sitzt die Plazenta? Wie groß ist das Kind? Anhand dieser und anderer Kriterien können Frauen mit hohem Risiko erkannt und einer Re-Sectio zugeführt werden, während andere Frauen, die diese Risiken nicht aufweisen, tatsächlich ohne relevant erhöhtes Risiko vaginal entbinden können. Im Verlauf der Geburt ist eine gute Überwachung des Kindes notwendig, um eine sich anbahnende Uterusruptur rechtzeitig zu erkennen. Außerdem ist, wie bei vaginalen Beckenendlagen-Geburten, die schnelle Verfügbarkeit neonatologisch versierter Kinderärzte wichtig."

Liegt ein Kind in Beckenendlage, empfehlen die Autoren ausdrücklich, dass die Schwangere vor der Geburt in einer Klinik, die tatsächlich Erfahrung mit der vaginalen Geburt aus Beckenendlage hat, beraten wird. "Bei einer Beckenendlagen-Einstellung des Kindes wird nicht mehr primär der Kaiserschnitt empfohlen", sagte Prof. Dr. Michael Abou-Dakn, ärztlicher Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof, der ZEIT Online.

Es sei wahr, dass in einigen Krankenhäusern Eingriffe durchgeführt wurden, die wahrscheinlich gar nicht nötig waren. "Viele Ärztinnen und Ärzte wussten es schlicht nicht besser." Die neue Leitlinie soll den Medizinern wissenschaftlich belegte Empfehlungen liefern.

"Leider finden sich in der Leitlinie kaum Formulierungen, welche strukturellen Voraussetzungen für bestimmte Entbindungen vorgehalten werden müssten", sagt Prof. Ulrich Thome. "An manchen Stellen ist von einer Vorstellung in einer ‚geeigneten‘ Geburtsklinik die Rede. An anderen Stellen ist von einer ‚entsprechenden technischen Ausstattung‘ und von ‚Fachpersonal‘ die Rede. Leider wird nicht spezifiziert, was damit gemeint ist."

"Die größte Herausforderung besteht in der Ausbildung der nächsten Generation von Geburtshelfern", sagt der Norweger Prof. Jörg Kessler. "Wenn man wieder mehr Schwangere – auch solche mit Risiko – für eine vaginale Entbindung motivieren möchte, muss ein hohes Fertigkeitsniveau in manueller und instrumenteller Geburtshilfe Voraussetzung sein. Eine Zentralisierung von Risikogeburten an Kliniken mit einer möglichst hohen Geburtenzahl erleichtert die Ausbildung und sammelt kompetente Kollegien. In Norwegen entbinden 70 Prozent der Schwangeren an Kliniken mit mehr als 1.500 Geburten pro Jahr."

Mit Material des Science Media Center