Kommt mit Liraglutid eine Abnehmspritze für Kinder?
Das Abnehmmedikament Liraglutid ist bislang für Jugendliche ab zwölf Jahren und Erwachsene mit Adipositas zugelassen. Weil man es unter die Haut injizieren muss, wird es auch als Abnehmspritze bezeichnet. Im Rahmen einer Studie wurde nun die Wirkung und die Sicherheit von Liraglutid bei Kindern getestet, die Ergebnisse[1] hat jetzt das Fachmagazin New England Journal of Medicine veröffentlicht.
Was ist Liraglutid und wie wirkt es?
Liraglutid gehört zur Gruppe der sogenannnten Glucaon-like Peptid-1 (GLP-1)-Rezeptorantagonisten. Sie wirken über verschiedene Signalwege im Körper so, dass unter anderem das Hungergefühl zurückgeht. Seit der Zulassung vor wenigen Jahren werden GLP-1-Rezeptorantagonisten wie Liraglutid und Semaglutid als „Abnehmspritze“ in den Medien viel diskutiert.
Dazu haben nicht nur die Erwähnung der Medikamente von Prominenten wie Elon Musk und Kim Kardashian beigetragen. Auch die signifikante Wirkung – die Wirkstoffe führen bei starkem Übergewicht tatsächlich zu einem Gewichtsverlust – sorgte dafür, dass die Wirkstoffe bekannt wurden.
Wie wurde die Studie zu Liraglutid bei Kindern durchgeführt?
Es handelt es sich um eine sogenannte Phase-3-Studie. Das bedeutet, dass das Medikament im Vergleich zu einer Standardbehandlung oder einem Placebo an einer Gruppe von Patienten und Patientinnen erprobt wird. So sollen Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit ermittelt werden. Diese Daten sind auch für eine Zulassung des Medikaments durch die Behörden nötig. Finanziert wurde diese Studie vom Hersteller der Spritze.
In die Studie waren 82 stark übergewichtige Kinder eingeschlossen. Sie alle erhielten eine regelmäßige Lebensstilberatung, in der sie und die Eltern lernen sollten, sich so zu ernähren und zu verhalten, dass das Übergewicht abnimmt. Alle erhielten außerdem über einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr täglich eine Spritze: 56 von bekamen mit jeder Injektion Liraglutid, bei den übrigen 26 Kindern war der Piks ein Placebo und enthielt keinen Wirkstoff. Kinder, Ärzte und Eltern wussten nicht, wer den Wirkstoff erhielt und wer nicht.
Was wurde in der Studie zu Liraglutid bei Kindern festgestellt?
Nach 56 Wochen hatten alle Kinder an Gewicht zugenommen, was erwartbar ist angesichts des Wachstums in diesem Alter. Bei den Kindern wurde daher nicht allein das Gewicht, sondern der Body-Mass-Index (BMI) bestimmt. Der BMI ist eine Meßgröße, die das Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße abbildet. Während der BMI bei der Placebo-Gruppe um 1,6 Prozent zugenommen hatte, war der BMI bei der Liraglutid-Gruppe um 5,8 Prozent zurückgegangen.
Eine Therapie mit Liraglutid in Kombination mit einer Lebensstil-Beratung führt also zu einer relativen Gewichtsabnahme. „Diese ist deutlich ausgeprägter als bei alleiniger Lebensstil-Beratung, unter der der BMI der Kinder weiter zunimmt“, sagt Professor Martin Wabitsch, Sektionsleiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Ulm und Leiter des Endokrinologischen Forschungslabors dort. (Transparenz-Hinweis: Wabitsch hat in der Vergangenheit Studien geleitet, die vom gleichen Hersteller gesponsert wurden.)
Welche Vorteile hätte eine Zulassung von Liraglutid für Kinder?
Der Anteil übergewichtiger Kinder nimmt seit Jahrzehnten zu – weltweit und in Deutschland. Schon in den 2010er-Jahren waren mehr als 15 Prozent aller Kinder in Deutschland übergewichtig.[2]Der Anteil der Kinder mit Adipositas, für die die Spritze relevant sein könnte, liegt bei sechs Prozent. Mit der Pandemie dürfte sich die Lage noch einmal verschärft haben: Durch die Beschränkungen waren Kinder mehr zu Hause und bewegten sich weniger, viele Sportangebote fielen im Rahmen des Lockdowns weg.
„Bisher gibt es für diese Altersgruppe keinerlei Medikation, um Adipositas zu behandeln“, sagt Professor Daniel Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde am Uniklinikum Salzburg in Österreich. Auch Operationen – etwa eine Magenverkleinerung – kommen selbst für extrem übergewichtige Kinder kaum infrage, weil sie sich noch im Wachstum befinden und die Operationen damit erhöhte Risiken haben und ihre Wirkung häufig zeitlich sehr begrenzt sein dürfte. (Transparenzhinweis: Weghuber hat in der Vergangenheit vom Hersteller der Spritzen und anderen Pharmaunternehmen Honorare erhalten.)
Die üblichen Behandlungskonzepte der Adipositas bei Kindern bestehen vor allem darin, das Verhalten und den Lebensstil zu ändern. Zunächst gilt es, mögliche Ursachen zu ermitteln. Stecken keine behandelbaren Erkrankungen hinter der Adipositas, sollte die Kalorienaufnahme reduziert werden – etwa durch eine Ernährungsumstellung. Durch mehr Bewegung kann der Kalorienverbrauch zudem gesteigert werden. Es gilt, Gewohnheiten langfristig zu ändern, wozu teilweise verhaltenstherapeutische oder psychologische Unterstützung notwendig ist. Nicht selten betrifft das die ganze Familie. Doch häufig ist das nur schwierig umzusetzen.
Das liegt auch daran, dass ein Teil der Kinder eine starke biologische Anlage für Übergewicht hat. „Diese manifestiert sich unter anderem durch einen Defekt der zentralen Regulation von Hunger und Sättigung“, sagt Martin Wabitsch. Das heißt, die Kinder haben „zu viel“ Hunger – und fühlen sich kaum satt. Genau hier – bei Hunger und Sättigung – setzt Liraglutid an.
Welche Nebenwirkungen hat Liraglutid bei Kindern?
Die Nebenwirkungen, die in der neuen Studie bei den Sechs- bis Zwölfjährigen beobachtet wurden, entsprachen den unerwünschten Wirkungen, die auch bei Jugendlichen und Erwachsenen auftreten. Häufig waren das Übelkeit und Durchfall. 10,7 Prozent der Kinder, die Liraglutid erhielten, brachen die Einnahme aufgrund der Nebenwirkungen ab. Bei zwei der 56 Kinder in der Liraglutid-Gruppe kam es zu Erbrechen, bei einem Kind zu einer Darmentzündung – in allen drei Fällen halten Mediziner einen Zusammenhang mit der Gabe von Liraglutid für wahrscheinlich oder zumindest möglich.
Hinzu kommt eine Beeinträchtigung der Lebensqualität im Alltag: Liraglutid muss täglich gespritzt werden. Andere Wirkstoffe wie Semaglutid, über dessen Wirkung bei Sechs- bis Zwölfjährigen derzeit ebenfalls eine Studie durchgeführt wird, müssen nur einmal die Woche injiziert werden.
Wie lang müssen Mittel wie Liraglutid angewendet werden?
In welchem Abstand die GLP-1-Rezeptroantagonisten auch injiziert werden müssen – vieles spricht dafür, dass sie über viele Jahre, womöglich sogar ein Leben lang angewandt werden müssen. „Was wir bisher aus Erfahrungen wissen: Wenn man das Medikament absetzt, kommt es bei einem überwiegenden Teil der Betroffenen wieder zu einer Gewichtszunahme“, sagt Weghuber. Zumindest, wenn sich am Ess- und Bewegungsverhalten der Patientinnen und Patienten nichts ändert.
Außerdem lässt sich bislang nur wenig über die Langzeitwirkungen und Risiken der Medikamente sagen, insbesondere wenn sie Kindern im Wachstum gegeben werden. „Obwohl es bisher keine Hinweise darauf gibt, dass Liraglutid die Körpergröße, das Knochenalter oder die Pubertätsentwicklung beeinflusst, sollten weiter die Daten der Teilnehmer der Studie und ihrer Entwicklung erhoben werden, um die längerfristige Wirkung zu beobachten“, sagt Dr. Nerys Astbury, Experte für Diäten und Adipositas an der britischen Oxford-Universität.
Wann wird Liraglutid für Kinder zugelassen?
Wegen der beschriebenen Nachteile und Unsicherheiten dürfte der Einsatz von Liraglutid bei Sechs- bis Zwölfjährigen mit Bedacht gewählt werden. „Das Medikament kommt zukünftig vor allem für Kinder mit extremer Adipositas infrage und sicher nicht für alle Kinder mit Adipositas“, sagt Wabitsch.
Damit es aber überhaupt angewandt werden kann, muss es von den der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erst einmal zugelassen werden. Die Forscher rechnen damit, dass dies in naher Zukunft geschehen wird.
Quellen:
- [1] Fox, C. et al.: Liraglutide for Children 6 to <12 Years of Age with Obesity — A Randomized Trial. NEJM: https://www.nejm.org/... (Abgerufen am 12.09.2024)
- [2] Robert Koch-Institut: AdiMon-Themenblatt: Adipositas bei Kindern und Jugendlichen. rki.de: https://www.rki.de/... (Abgerufen am 12.09.2024)