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Stopp! Stopp!“ Milan (Name von der Redaktion geändert) wiederholte das Wort immer wieder. Seine Oma verstand ihn jedoch nicht. Sie ging mitten durch die Legosteine, die der Dreijährige im Wohnzimmer der Großeltern ausgebreitet hatte. Milan wollte etwas bauen, doch seine Oma reagierte seltsam. Im Kindergarten hatte er gelernt, dass an­dere es akzeptieren, wenn er „Stopp“ sagt. Warum klappte das jetzt nicht? Ratlos wandte sich der Junge an ­seine Mutter: „Ich sage ‚Stopp‘, aber die Oma hört einfach nicht.“

Auch Milans Mutter war hilflos, erst recht, als sich die Szene wiederholte. „Ich kannte meine Mutter so nicht“, erzählt Nina (Name geändert). Kurz darauf begleitete sie diese zum Arzt: Die Diagnose lautete Demenz. Nina überkam ein Gefühl von Ohnmacht. „Ich wusste nicht, wie ich das mit ihr und meinem Kind hinbekommen sollte“, erzählt sie.

Jedes Jahr erhalten 300 000 Menschen in Deutschland die Diagnose Demenz. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind knapp neun Prozent der über 65-Jährigen betroffen – immer mit Auswirkungen auf alle Angehörigen.

Diagnose Demenz: Schweigen macht Angst

„Eltern sind sehr bemüht, ihre Kinder nicht zu belasten“, erklärt Martina Plieth. Die Professorin für Gemeindepädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit an der Evangelischen Hochschule Nürnberg beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema „Kinder und Demenz“ und weiß: Viele Eltern vermeiden es, über die Erkrankung zu sprechen. Sie fürchten, ihren Kindern Angst zu machen. Allerdings erreichen sie damit das Gegenteil.„Kinder nehmen die Veränderungen sehr genau wahr“, sagt Plieth. Wenn Erwachsene darüber schweigen, löst das erst recht Ängste aus.

„Kinder haben feine Sensoren“, bestätigt Christina Kuhn, Geschäftsführerin des Demenz Support Stuttgart. „Wenn sie keine Erklärungen bekommen, machen sie sich ihre eigenen Gedanken und Geschichten.“ Sie rät, offen mit der Demenz umzugehen.

Doch wie kann man Kindern etwas so Abstraktes erklären wie eine neuronale Erkrankung? „Im Vordergrund steht nicht die Vermittlung von Wissen“, sagt Plieth. Ein guter Weg sei es, an Gefühle anzuknüpfen, die auch Kinder bereits kennen. ­Viele wissen zum Beispiel, dass es unangenehm ist, wenn einem ein Mensch, den man nicht oder nicht gut kennt, zu nahe kommt. Auch Demenz-­Kranke empfinden oft ähnlich, etwa weil sie vergessen haben, wer ihr Gegenüber ist. „Kinder lernen so zu verstehen, warum sich Omi oder Opi ungewöhnlich verhält“, erklärt Plieth.

So lernen Kindern den Umgang mit Demenz

Für den Umgang mit einem Menschen mit Demenz gibt es zudem ein paar einfache Regeln, die schon Kinder lernen können. Etwa, dass es wichtig ist, laut und langsam zu sprechen. Oder, dass man sich nicht an die Oma anschleichen darf, um sie zu überraschen. Das überfordert.

Für Nina stand immer fest, dass sie mit ihren Kindern offen sprechen würde. Sie nutzte das Interesse, das ihr Sohn schon zuvor für den menschlichen Körper gezeigt hatte. Gemeinsam schauten sie eine Kinderserie an, die erklärt, wie der Mensch funktioniert. Die roten Blutzellen werden dort als schwer arbeitende Männchen dargestellt. „Ich ­habe ihm erklärt, dass die Männchen in Omas Gehirn nicht mehr so gut arbeiten“, erinnert sich die Mutter.

Danach verstand Milan, warum die Oma sich manchmal komisch verhält. Als er während der Corona-Pandemie lange nicht in den Kindergarten gehen konnte, machte es ihm sogar Freude, etwas bei der Pflege zu helfen.

Auch Pädagogin Plieth rät dazu, Kinder miteinzubeziehen, etwa beim Eincremen oder Haarekämmen. Die Bereitschaft sollte allerdings immer vom Kind ausgehen. Wichtig ist zudem, dass sich Eltern über den eigenen Umgang mit der Demenz Gedanken machen. „Dieser überträgt sich auch auf die Kinder“, sagt Dr. Anja Rutenkröger, Co-Geschäftsführerin des Demenz Support. Hat die Großmutter zum Beispiel immer gern gekocht – und vergisst jetzt öfter mal, den Herd auszumachen? Statt den Strom abzustellen, kann man nach einer Lösung suchen, bei der sie ihre Fähigkeiten weiter einsetzen kann. Zum Beispiel, indem man eine Herdsicherung installiert.

Kinder interessieren sich für Verhalten

Emotionale Nähe und gesunder Pragmatismus sind laut Kuhn zwei wichtige Säulen, um als Familie gut mit Demenzbetroffenen zu leben. Dabei kann der kindliche Blick auf die Erkrankung das Miteinander sogar erleichtern. „Kinder werten die Veränderungen nicht und gehen deshalb oft sehr unbeschwert mit den Betroffenen um“, sagt Rutenkröger.

Das ist auch die Erfahrung von Marko Bleiber, Bereichsleiter für Qualitätsentwicklung in der Stiftung Kindergärten Finkenau, Hamburg. Vor zehn Jahren startete er als Leiter der Kita „Eulennest“ in Hamburg ein Kooperationsprojekt mit dem benachbarten Pflegeheim, das Kinder und ältere Menschen in Kontakt bringt. Inzwischen promoviert er darüber. Regelmäßig gibt es gemeinsame Aktivitäten wie Singen, Basteln, Turnen oder Kochen. „Eltern halten Kinder oft vom Pflegeheim und dem Thema Alter fern“, erzählt Bleiber. Seiner Erfahrung nach zeigen diese aber großes Interesse dafür.

Wichtig, so der Pädagoge, seien aller­dings begleitende Gespräche – offen, ohne Klischees und vorgefertigte Urteile. „Viele Erwachsene neigen dazu, zu bewerten und zu problematisieren. Ein Verhalten, das Kinder häufig übernehmen“, erklärt Bleiber. Statt von „der schrecklichen Demenz“ zu sprechen, sei es besser, die Kinder anzuregen, darüber nachzudenken.

Hilfe bei Demenz

Information und Unterstützung rund um Demenz erhalten Sie bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft oder beim Alzheimer-Telefon 030 / 259 37 95 14.

Selbst wenn die Kinder mit der Erkrankung gut klarkommen: Eltern kann die doppelte Anforderung von Pflege und Erziehung an ihre Grenzen bringen. Als Nina zwei Jahre nach der Demenz-Diagnose ­einen zweiten Sohn bekam, nahm sie diesen zunächst mit zu ihrer Mutter. Die Großmutter und der zweite Enkel fanden gemeinsame Spiele. „Stundenlang konnten sie sich anblubbern und anprusten“, erzählt sie. Für beide war das schön – und wichtig. Mit der Zeit wurden die Besuche aber zum Balanceakt. Auf der einen Seite das Kind, das krabbelnd die Wohnung erkundete, auf der anderen die Mutter, die Unterstützung brauchte.

Alltag mit Demenz: Humor statt Perfektion

„Es wird etwas weniger stressig, wenn man sich selber entstresst“, sagt Pädagogin Plieth. Ihr Rat: Humor und Pragmatismus statt starrer Pläne und Perfektion. Und: sich ein Helfernetz aufbauen.

Genügend Zeit ist auch für Gespräche wichtig. Abends hat der inzwischen sechsjährige Milan oft Redebedarf, besonders an Tagen, an denen er zu Besuch bei seiner Oma war, die inzwischen im Pflegeheim lebt. Manchmal kommen dann schwierige Fragen auf. Etwa, warum die Großmutter jetzt im Heim ist. Oder, ob sie sterben wird. Nina erzählt ihrem Sohn, dass die Oma wohl einmal stirbt. Dass sie davor aber noch Zeit miteinander haben, die sie so gut wie möglich nutzen werden.

Vorlesen über Vergesslichkeit

Diese Bilderbücher eignen sich für Kinder ab vier Jahren:

„Opa Rainer weiß nicht mehr“ von Kirsten John und Katja Gehrmann, Knesebeck Verlag:
Mia erlebt mit ­ihrem Opa tolle Sachen, aber irgend­wann vergisst er die kinderleichtesten Dinge wie Schuhe anziehen oder einen Keks essen. Zum Glück hat Mia immer eine kreative Idee.

„Als Oma immer kleiner wurde“ von Inka Pabst und Mehrdad Zaeri, Tulipan Verlag: Die Oma wird immer kleiner, ihre Enkelin immer größer und diese übernimmt mit der Zeit die Aufgaben der Oma. Bald ist diese so winzig, dass sie ins Ohr des Kindes krabbelt und so immer bei ihr bleibt.

„Oma Luise und die Schmetterlinge“ von Anja Rutenkröger und Christina Kuhn, Mabuse Verlag: Nach und nach kommen die Schmetterlinge und flattern mit Oma Luises Erinnerungen davon. Ein Bilderbuch, das mit konkreten Fragen zu Gesprächen anregt. Ein Informationsteil vermittelt Hintergrundwissen.

„Arthur und der Elefant ohne Erinnerung“ von Maria Giron, Jumbo Verlag: Arthur begegnet einem traurigen Elefanten, der sich an nichts mehr erinnern kann. Der Junge möchte ihm helfen und lädt ihn zum Spielen ein. Sie haben viel Spaß und der Elefant vergisst seine Sorgen.

„Dich vergesse ich nie“ von Laura Hughes und Rachel Ip, Ravensburger Verlag: Amelie und ihre Oma finden einen magischen Ort, an dem alles gesammelt wird, was man jemals vergessen hat. Von Amelies Oma ist schon jede Menge dort, denn sie ist sehr vergesslich. Wie lieb sie Amelie hat, vergisst sie nie.