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Frau Spiegel, die Kinder und Jugendlichen haben im Lockdown gelitten und überhaupt in der Pandemie. Jetzt wird es Zeit, dass sie in den Vordergrund treten...

Unbedingt! Das ist mir ein Herzensanliegen.

Wie wollen Sie das schaffen?

Mir ist am Allerwichtigsten, dass bei allen Corona-Maßnahmen, die ergriffen werden, immer geschaut wird: Was macht das mit Kindern, Familien, Jugendlichen. Das ist in der Pandemie bislang leider zu kurz gekommen. Ich bin froh, dass wir jetzt einen breiten politischen Grundkonsens haben, als Allerletztes über die Schließung von Schulen und Kitas zu sprechen.

Jetzt müssen sich vor allen Dingen Erwachsene solidarisch zeigen, also etwa Kontakte reduzieren, damit nicht wieder Kinder und Jugendliche diejenigen sind, die sich stark einschränken müssen. Es geht nicht nur um Kitas und Schulen, sondern auch um Aktivitäten wie Kindergeburtstage, Sport und Kultur. Der Wegfall all dieser Dinge hat den Alltag und das Leben von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigt. Schon jetzt sind massive psychische Folgen zu sehen.

Würden Sie ausschließen, dass Kitas und Schulen geschlossen werden angesichts der hohen Infektionszahlen?

Falls wir noch einmal restriktivere Maßnahmen ergreifen müssten, wäre mir wichtig, dass sie sich explizit auf Erwachsene beziehen und Kinder und Jugendliche mit ihrem Alltag ausklammern. Denn Schule ist mehr als Lernen. Mich hat in der Diskussion um das Aufholen von Versäumtem geärgert, dass es überwiegend um das Nachholen von Lernstoff ging.

Dabei geht es um viel mehr: Es geht um den Alltag von Kindern und Jugendlichen. Der ist gerade in so einer unsicheren Pandemie ein Anker, er gibt Stabilität und Geborgenheit. Und der Kontakt mit Gleichaltrigen ist für Kinder und Jugendliche unfassbar wichtig, viel wichtiger als für uns Erwachsene, die wir auch andere Wege finden können, um Kontakt zu halten.

Was ist mit einer Impfpflicht für Kinder? Schließen Sie sie aus?

Ja. Dieses Thema darf nicht auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen werden. Wir sollten uns in der Diskussion auf eine Impfpflicht für Menschen ab 18 fokussieren.

Frau Spiegel, Sie wollen mit dem alten Familienbild Schluss machen. Was bedeutet für Sie Familie – im Jahr 2022?

Familie ist dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Diese Definition aus dem Koalitionsvertrag wird der Vielfalt von Familie in unserer Gesellschaft gerecht. Sie macht klar: Familie ist auch die traditionelle Ehe oder Partnerschaft mit keinem, einem oder mehreren Kindern, aber sie ist noch viel mehr: Patchwork, Alleinerziehende, Kinderreiche, Gleichgeschlechtliche und viele weitere Konstellationen.

Warum ist Ihnen wichtig, das Familienbild auszuweiten?

Wir müssen von der gesellschaftlichen Realität ausgehen. Familie ist Vielfalt. Ich finde es wichtig, dass Politik diese sichtbar macht und auch wertschätzt. Wir müssen die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen an die Familien im Jahr 2022 anpassen.

Wie will die Ampel das Familienrecht reformieren?

Es gibt mehrere Vorhaben zur Stärkung der Rechte von Familien, die wir zusammen mit dem Justizministerium umsetzen wollen. Ein Beispiel: Wenn zwei lesbische Mütter ein Kind bekommen, muss eine Mutter im Moment noch sehr kräftezehrende und stigmatisierende Behördengänge hinter sich bringen. Das wollen wir beseitigen. Zukünftig sollen automatisch beide Mütter des Kindes werden.

Und wenn der biologische Vater aus dem Freundeskreis beispielsweise sagt „Ich möchte auch Verantwortung übernehmen und dabei sein, wenn das Kind aufwächst“, soll auch er in seinen Rechten gestärkt werden.

Das ist also eine „Verantwortungsgemeinschaft“?

Mit dem Begriff Verantwortungsgemeinschaft sind eher keine Liebesbeziehungen gemeint. Ein Beispiel: zwei Alleinerziehende ziehen zusammen und übernehmen Verantwortung füreinander. Sie kümmern sich zusammen um die Kinder und um einander. Das kann zum Beispiel Folgen haben für das Mietrecht. Es geht aber auch um Fragen wie: Wer darf im Krankenhaus Auskunft erhalten, wenn eine der Frauen krank wird?

Werden Alleinerziehende dadurch auch gestärkt?

Ja, das stärkt alle nicht-klassischen Familien. Alleinerziehende sind besonders darauf angewiesen, dass sie ein stabiles Umfeld haben mit Menschen, die mit ihnen gemeinsam die Sorge- und Familienarbeit übernehmen. Dabei kann eine Verantwortungsgemeinschaft stärken.

Im Rahmen des neuen Familienrechtes, das kommen soll, ist auch vom großen und kleinen Sorgerecht die Rede. Was ist damit gemeint?

Wir wollen damit vor allem die Familien stärken, die nicht in einer traditionellen Ehe oder Partnerschaft leben. Zu einer Patchworkfamilie gehören viele Menschen. Um sie zu stärken, wollen wir das kleine Sorgerecht einführen. Wie das genau aussehen soll, wird noch erarbeitet, federführend ist das Justizministerium.

Wird das nicht kompliziert?

Ich will Familien stärken und nichts komplizierter machen. Wir passen das Recht und die politischen Rahmenbedingungen an die Realität an. Die Gesellschaft hat sich stark weiterentwickelt. Politik und gesetzliche Rahmenbedingungen sollten die Gesellschaft abbilden.

Hauptstadtkorrespondentin Tina Haase und Chefredakteurin Stefanie Becker im Gespräch mit Familienministerin Anne Spiegel (von links).

Hauptstadtkorrespondentin Tina Haase und Chefredakteurin Stefanie Becker im Gespräch mit Familienministerin Anne Spiegel (von links).

Sie wollen die gemeinsame Betreuung von Kindern nach Trennung oder Scheidung fördern. Wie wollen Sie das erreichen?

Wir wollen vor allem die Beratung stärken, und zwar vor, während und nach der Trennung. Im Idealfall kann durch fachkundige Beratung ein Konflikt aufgelöst, eine Trennung verhindert werden.

Die Stärkung der Beratungsinfrastruktur ist im Koalitionsvertrag vorgesehen. Die Beratung soll den Eltern helfen, das passende Betreuungsmodell für ihren spezifischen Bedarf zu finden. Beide Partner:innen können gleich viel Verantwortung übernehmen, aber es gibt auch andere Möglichkeiten.

Vieles hat sich in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Aber meist sind es noch die Frauen, die in Teilzeit arbeiten oder längere Zeit zuhause bleiben. Was muss getan werden, damit sich das ändert?

Mein Anliegen ist, Menschen dabei zu unterstützen, sich Familien- und Sorgearbeit stärker partnerschaftlich aufzuteilen. Dafür brauchen wir eine stärkere Umverteilungsdebatte. Bis es zur Familiengründung kommt, läuft es bei der Mehrzahl der Paare in Sachen Job und Hausarbeit ziemlich gleichberechtigt. Dann geht die Schere weit auseinander. Da müssen wir ansetzen.

Wie?

Ich möchte keiner Familie vorschreiben, wie sie ihren Alltag gestalten soll. Aber die Zahlen sprechen für sich: Laut Umfragen möchte etwa die Hälfte der Frauen mehr im Beruf arbeiten, gleichzeitig möchten sich etwa 50 Prozent der Männer stärker für die Familie engagieren.

In der Realität sehen viele Frauen zu, wie sie irgendwie Job und Familie, vielleicht noch die Pflege von Angehörigen und ein Ehrenamt unter einen Hut bringen und reiben sich dabei auf. Das muss gleichmäßiger in der Partnerschaft aufgeteilt werden. Wenn Väter mehr Familienarbeit übernehmen, entlastet das die Mütter und sie können sich stärker im Beruf einbringen.

Bei Ihnen kümmert sich Ihr Mann um die Kinder und Sie sind berufstätig. Funktioniert ein gleichberechtigtes Modell, bei dem beide Kinder versorgen und sich beruflich verwirklichen, einfach nicht in herausgehobenen Positionen?

Es kommt immer auf die individuelle Situation an. Da muss jede Familie ihren Weg finden.

Und das ist Ihnen gelungen?

Bei uns gibt es ein anderes Problem: Mein Mann, der seit unserem ersten Kind komplett bei den Kindern ist, erfährt Diskriminierungen, die ich als berufstätige Frau so nicht erlebe. Wenn er mit den Kindern in der Stadt unterwegs ist und einen Wickeltisch braucht – die sind fast immer auf den Damentoiletten.

Es gibt auch Übergriffigkeiten: Frauen im Café wollten ihm schon ungefragt zeigen, wie er die Babyflasche richtig halten soll. Und es kann doch nicht sein, dass wenn das Elterngespräch ansteht, nur gefragt wird, wann denn die Mutter Zeit hätte. Daran zeigt sich: Es ist noch jede Menge zu tun, bis es ganz selbstverständlich ist, dass Männer sich um Kinder kümmern.

Es ist aber auch nicht möglich, als Familienministerin nur 30 Stunden in der Woche zu arbeiten…

Nein, das ist realistischerweise nicht möglich.

Könnte das irgendwann auch anders werden in solchen herausragenden Positionen?

Ich setze mich auf jeden Fall dafür ein, dass Führen in Teilzeit gefördert wird. Und ganz gleich, welche Position man innehat: Für eine Frau sollte es immer möglich sein, eine Familie gründen zu können.

Dass Frauen und Männer jeweils die Hälfte der Elternzeit nehmen. Davon sind wir noch weit entfernt…

Stimmt, da haben wir noch einen Weg vor uns und müssen Schritt für Schritt vorangehen. Wir wollen die Partnermonate bei der Elternzeit von bisher zwei auf drei Monate erhöhen. Das ist ein Angebot an die Familien. Zudem planen wir, dass es eine zweiwöchige bezahlte Freistellung nach der Geburt für Väter gibt.

Was ist Ihnen noch wichtig, damit die Vereinbarkeit gut gelingt?

Der Ausbau von Kita- und Ganztagsschulplätzen muss vorankommen. Auch die Qualität muss besser werden. Wir nehmen erhebliche Mittel in die Hand, um das mit den Ländern gemeinsam voranzutreiben. Mein Eindruck ist, dass oftmals der große Einschnitt beim Übergang von der Kita in die Grundschule kommt, wo die Betreuung am Nachmittag in vielen Bundesländern noch nicht in dem Maße gewährleistet ist, wie es für eine gute Vereinbarkeit nötig wäre.

Wo wird Deutschland in Sachen Gleichberechtigung in vier Jahren stehen?

Das ist ein langer Prozess. Ich werde alles dafür tun, dass wir ein paar spürbare Schritte vorankommen. Nicht nur beim Thema Vereinbarkeit. Letztlich hat Gleichberechtigung viel mit ungleichen Machtverhältnissen zu tun, die wir anpacken müssen. Aus ungleichen Machtverhältnissen nähren sich auch schreckliche Phänomene wie Sexismus und Gewalt gegen Frauen. Das will ich alles angehen.

Wo sehen Sie Chancen, Gewalt gegen Frauen einzudämmen?

Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Istanbul-Konvention vorbehaltlos umzusetzen. Sie ist ein Meilenstein, wenn man sie ernst nimmt – und das tue ich –, um Gewalt gegen Frauen und Mädchen effektiv bekämpfen zu können.

Am besten sollte Gewalt in einer Familie oder Partnerschaft erst gar nicht entstehen. Gewalt kann oftmals verhindert werden, wenn Konflikte so gelöst werden, dass es nicht zur Eskalation kommt. Deshalb müssen wir an die ungleichen Machtverhältnisse ran. Dabei geht es mir auch um die Sprache.

Wie meinen Sie das?

Statistisch gesehen stirbt etwa alle zweieinhalb Tage in Deutschland eine Frau aufgrund von Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner. Das darf nicht durch den Begriff „Beziehungstaten“ verharmlost werden, das sind Femizide, Morde, die vom Partner oder Ex-Partner verübt werden.

Wir müssen, neben dem wichtigen Vorhaben, Gewalt im Vorhinein zu verhindern, die Beratungsstellen und die Infrastruktur für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen verbessern. Wir brauchen mehr Frauenhausplätze. Und wir brauchen Männer mit im Boot, die sich solidarisieren und sich gegen Gewalt an Frauen einsetzen. Ebenso will ich Einrichtungen für Täterarbeit stärken. Sie können die Rückfallquote deutlich senken.

Männer mit ins Boot holen, die sich gegen Gewalt gegen Frauen einsetzen: Ist das für Sie auch ein Ansatz gegen Frauenhass im Netz aktiv zu werden?

Ich habe den Eindruck, dass sich im Netz entfesselt und unter dem Deckmäntelchen von Pseudonymen eine Gewaltverherrlichung breitmacht, insbesondere gegenüber Frauen. Auch das hat viel mit Machtgefälle, Erniedrigung und Anti-Feminismus zu tun.

Hass und Hetze im Netz sind besorgniserregende Phänomene, die wir nochmal gesondert betrachten müssen. Oftmals beginnt es im Netz, aber früher oder später spülen der Hass und die Hetze aus dem Netz auf die Straße und münden in körperliche Gewalt. Das ist sehr alarmierend. Gemeinsam mit der Bundesinnenministerin und dem Bundesjustizminister werden wir dagegen angehen.

Die Ampel will eine Kindergrundsicherung einführen, um Kinderarmut zu bekämpfen. Womit können Familien rechnen?

Die Kindergrundsicherung ist eine Kampfansage an Kinderarmut in unserer Gesellschaft. Wir haben ein Wirrwarr an familienpolitischen Leistungen. Und trotzdem bekommen viele Kinder aus Familien mit wenig Einkommen gar nicht die Unterstützung, auf die sie einen Anspruch haben. Deshalb führen wir die bestehenden Leistungen zusammen in eine Kindergrundsicherung, die einen Grundbetrag für alle Kinder enthält plus einen einkommensabhängigen Kinderbetrag, der obendrauf kommt.

Können Sie schon etwas zur Mindesthöhe sagen?

Es wird eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe geben, die das Modell erarbeitet und auch die Höhe festlegt.

Aber die Leistungshöhe für Familien, die von Armut betroffen sind, wird dabei mindestens so hoch sein wie das, was ihnen jetzt schon an Leistungen zur Verfügung steht?

Mit mir wird es kein Modell geben, was zu einem Minus im Geldbeutel von Familien führt.

Übergangsweise planen Sie einen Sofortzuschlag von bis zu 25 Euro pro Kind für ärmere Familien …

Der Sofortzuschlag soll den etwa 2,7 Millionen Kinder in Deutschland helfen, die aktuell von Armut betroffen sind. Über die Höhe wird noch verhandelt.

Sie waren letztens noch auf Wohnungssuche in Berlin. Sind Sie inzwischen fündig geworden und hat jedes Kind ein Zimmer bekommen?

Ja, wir haben eine Wohnung gefunden in Berlin. Ich konnte das Versprechen einlösen, das jedes Kind ein eigenes Zimmer bekommt, und wir können sogar die Katze mitnehmen. Ein Umzug mit vier kleinen Kindern und Katze quer durch Deutschland – da mache ich drei Kreuze, wenn wir das hinter uns haben.

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