Die Frage "Hast du gut geschlafen?" kann Florian Schumacher nicht nur nach Gefühl beantworten, sondern mit Zahlen sowie Wochen- und Monatstendenz. Ein Sensor im Fingerring führt nachts Buch, wie lang, tief und erholsam er schläft. Über den Tag protokolliert eine Smartwatch, wie viel Schumacher sich im Homeoffice bewegt, ob er regelmäßig sein Krafttraining absolviert und mit welcher Herzfrequenz. Abends nutzt er Apps und Messgeräte zum Meditieren. Dann atmet eine App mit ihm so lange im richtigen Rhythmus, bis ein Ohrclip mit Herzratenvariabilitäts-Sensor Entspannung misst. "Ich bin kein Roboter", sagt der Münchner. "Daten sind nicht meine Autorität. Aber durch die Analyse meiner Gesundheitsdaten habe ich unglaublich viel über mich gelernt und fühle mich heute fitter und wohler."

Selbstvermessung als Beruf

Schumacher hat vor elf Jahren begonnen, immer wieder seine Körperwerte und Gewohnheiten zu vermessen. Mittlerweile berät er andere beruflich, wie sie das am besten tun und mit welchen Geräten. Den ersten Fitness-Tracker hatte er 2011 direkt in den USA bestellt, damals noch ein reiner Schrittzähler. Dank immer kleinerer Sensoren passen heute halbe Medizinlabore in Arm- und Stirnbänder, Ringe und Ohrclips. Sie messen Bewegung und Schlaf, Herzrhythmus und Stresslevel – immer mit dem Versprechen, die Gesundheit zu verbessern oder zu erhalten.

EKG, Blutzucker, Blutsauerstoff – alles messbar

Mit den neuen Möglichkeiten der "Quantified Self"-Technologie (deutsch: Selbstvermessung) kann jede:r ein einfaches EKG aufzeichnen, Blutzucker und Blutsauersauerstoff, Herzfrequenz und Herzratenvariabilität messen. Die Letztere beinhaltet durch die Variation in den zeitlichen Abständen zwischen zwei Herzschlägen auch einen Stresswert. Das Neuro-Armband "Apollo Neuro" verspricht, diesen gleich über Schallwellen zu therapieren. Für mehr Aufmerksamkeit in Meetings, mehr Gelassenheit im Alltag, mehr "Readiness" – also mehr Leistungsbereitschaft.

Laut einer Marktanalyse der International Data Corporation lieferten Hersteller 2020 weltweit 444,7 Millionen Wearables zum Gesundheitsdatentracking aus, 28,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Vorbei die Zeiten, als nur Extremsportler:innen und Technikfreaks sich für solche Tools interessierten.

Kann Tracking das Altern aufhalten?

"Die Einstellung dazu ändert sich gerade", sagte Michael Snyder, Genetikprofessor der Stanford University, dem "Wall Street Journal". Sich mit Sensoren auszustatten, die melden, wenn etwas im Körper nicht stimmt, "erscheint vielen durch die Pandemie als gute Idee". Gesundheitsdaten aus Smartwatches könnten bald helfen, Covid-19 mehrere Tage vor den ersten Symptomen zu erkennen. Snyder erforscht auch, wie sich Alterungsprozesse durch Tracking gezielt verlangsamen lassen.

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Gesünder dank Daten?

Vor allem für Herzkranke, Menschen mit Diabetes und Übergewichtige bieten die Tools zum Teil unbestritten Vorteile. Inwieweit sie den Gesunden nutzen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Dass Algorithmen Gesundheit überhaupt erfassen, geschweige denn helfen können, sie zu verbessern, bezweifelt etwa Professor Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln. Gemessen würden lediglich "physiologische Funktionen". Die Empfehlungen auf einer solchen Datenbasis seien fürs Wohlbefinden weniger hilfreich, als schlichtweg regelmäßig Sport zu treiben.

Nur wenige Anwendungen sind bisher medizinisch geprüft wie die EKG-App in der "Apple Watch". Andere Geräte bleiben einen validen Nutzennachweis schuldig. Messungenauigkeiten, die laut der Schweizer Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-SWISS) bei manchen Geräten 10 bis 20 Prozent betragen, seien für Laien dann oftmals schwer interpretierbar, führten zu Verunsicherung und schürten Krankheitsängste, meinen die Forscher:innen. Manchmal messen die Geräte auch nicht, was sie vorgeben. In einem Test der West Virginia University war kein Schlafanalyse-Tool in der Lage, Schlafphasen zu tracken, wie behauptet. Forscher:innen der Universität Utah zeigten, dass Schlaftracking tatsächlich auch zu Schlaflosigkeit führen kann. Der Fachbegriff lautet "Orthosomnia". Das ist also nicht gerade die Verbesserung der Schlafqualität.

"Die Grenze zwischen motivierend und stressverursachend ist bei diesen Technologien sehr fein und auch sehr individuell", sagt Marion Koelle, die Mensch-Maschine-Interaktion am Informatics Campus der Universität des Saarlandes erforscht. Häufig teilten User:innen ihre Gesundheitsdaten mit anderen auch auf Social Media, was Vergleichbarkeit schafft, die einige anspornt, sagt Koelle. "Bei anderen baut der ständige Vergleich nur Druck auf."

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Achtung Datensammler

Einen anderen Aspekt findet Koelle "höchst problematisch": Oft bleibt intransparent, welche Daten gesammelt werden und wer Zugriff darauf hat, jetzt oder in Zukunft. Für die werbetreibende Industrie, für Arbeitgeber und Versicherungen sind solche gesundheitsbezogenen Informationen hochinteressant. Der Versicherungskonzern Generali hat bereits seine eigene "Vitality App". Wer einen bestimmten Berufsunfähigkeitstarif abschließen will, muss sie downloaden, dokumentiert "gesundheitsrelevantes Verhalten" und erhält Rabatte. Der Bund der Versicherten (BdV) klagte dagegen im April zunächst erfolgreich. Das Landgericht München monierte intransparente Vertragsbedingungen. Doch für den BdV ist das Problem ein größeres: Wenn Versicherungen Fitte und Gesunde bevorzugen, verletzen sie das Solidaritätsprinzip und diskriminieren eventuell Kranke.

Daran scheitern Langzeitnutzer

Ob es so weit kommt, wie Juli Zeh 2009 in ihrem Roman "Corpus Delicti" schwarzmalte, in dem der Staat Bürger bestraft, die ihre Gesundheitsaktivitäten nicht tracken – es könnte an etwas Banalem scheitern. Langzeitstudien über "Quantified Self"-Tools zeigen immer wieder, dass nicht alle so ausdauernd bei der Sache sind wie Vieltracker Florian Schumacher. Etliche nutzten ihre Geräte nur für einen kurzen Zeitraum und legten sie dann weg. Als Gründe werden immer wieder genannt: mangelnder Tragekomfort und das nervige Laden des Akkus.