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Herr Dr. Müller, wie verteilen sich Impfstoffe gegen das Coronavirus derzeit auf die Welt?

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bisher 70 Prozent des Impfstoffs in den zehn reichsten Ländern verimpft. Das ist nicht jene internationale Solidarität, die notwendig ist, um Corona zu stoppen. Manche Länder haben sich doppelt so viel Impfstoff gesichert, wie sie für ihre Bürger bräuchten.

Ist es da vermessen, sich über die Impffortschritte in Deutschland zu beschweren?

Jeder muss in seinem Verantwortungsbereich jetzt entschieden handeln. Was uns in Deutschland hemmt, sind überbordende Bürokratie und fehlende klare Zuständigkeiten. Ich blicke aber auch auf die Welt und stelle fest, dass ein System der Verteilung für eine globale Impfkampagne vorhanden ist, wie es sie noch nie gab.

Welches System meinen Sie damit?

Mit der Impfplattform Covax sind die Strukturen vorhanden, um in diesem Jahr mindestens 20 Prozent der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu versorgen.

Wie funktioniert diese Plattform?

Covax beschafft Impfstoffe, die die ärmsten 92 Länder kostenfrei erhalten. Damit die Initiative mit über 190 Ländern funktioniert, müssen die Produktionskapazitäten gesteigert werden und die Finanzierung muss gedeckt sein.

Wieviel Geld braucht es denn?

22 Milliarden Dollar fehlen für die Bereitstellung von Impfstoffen über Covax und lebensrettende Arzneimittel und Tests. Skandalös! Die Weltgemeinschaft sollte diese Lücke bald schließen. Auch die EU muss ihren Beitrag erhöhen: Bis jetzt stellt sie eine Milliarde Euro zur Verfügung – entschieden zu wenig, wo doch gleichzeitig ein europäisches Wirtschaftsprogramm von 1000 Milliarden Euro finanziert wird.

Das aber den eigenen Bürgern hilft…

Die Pandemie besiegen wir nur weltweit oder gar nicht. Sonst kommt das Virus mit dem nächsten Flugzeug oder Schiff zu uns zurück. Das Positive ist: Inzwischen gibt es dafür ein Problembewusstsein auf internationaler Ebene.

Auch in Deutschland?

Deutschland geht voran: 2020 und 2021 stellt die Bundesregierung über die globale Kooperationsplattform ACT-A knapp 2,2 Milliarden Euro zur Entwicklung, Produktion und weltweit gerechten Verteilung von Covid-19-Impfstoffen, Diagnostika und Therapeutika zur Verfügung. Darüber hinaus fördert Deutschland die WHO mit einer Milliarde Euro. Diese muss ein globales Forschungs- und Entwicklungszentrum zur Bekämpfung von Pandemien werden. Denn klar ist: Corona wird nicht die letzte sein. Schon jetzt haben Forscher circa 40 weitere ähnlich gefährliche Viren entdeckt. Wir müssen also auch Präventionsstrukturen aufbauen, um die nächste Pandemie zu verhindern. Zudem sind Wissensaustausch und Kooperation aller Forscher weltweit nötig. All das fördert die WHO.  

Wäre es zusätzlich sinnvoll, überschüssige Impfdosen abzugeben?

Deutschland liegt in punkto Impfrate nicht einmal im europäischen Mittelfeld. Wir können also nicht von überschüssigen Dosen sprechen. Zumal bislang weder die über 70-Jährigen noch jene Berufsgruppen, die ganz vorne stehen, komplett geimpft sind. Wichtiger ist: Exportbeschränkungen aufheben und die Impfstoffproduktionen massiv unterstützen. Mit freiwilliger Lizenzierung und Technologietransfer an Entwicklungs- und Schwellenländer schaffen wir es am schnellsten, die notwendigen Impfdosen zu produzieren. Konkret führen wir schon Gespräche, um eine Impfstoffproduktion in Südafrika aufzubauen.

Warum hilft es uns hier, wenn die Menschen dort geimpft sind?

Es ist eine Frage der Humanität. Und der weltweite Schaden durch die Krise ist gigantisch. 160 Millionen Menschen könnten dieses Jahr nach Schätzungen der Weltbank in absolute Armut zurückgeworfen werden. Allein in Afrika haben geschätzt 300 Millionen Menschen ihren Job verloren. Circa zwei Millionen werden sterben, weil Gesundheitssysteme überlastet sind und es an Medikamenten fehlt.

Könnten Fluchtbewegungen die Folge sein?

Die Pandemie hat die größte Wirtschaftskrise in den vergangenen 50 Jahren in Entwicklungs- und Schwellenländern ausgelöst. In Karibik- und Pazifikstaaten etwa brechen durch die ausbleibenden Touristen bis zu zwei Drittel der Wirtschaftsleistung weg. In vielen afrikanischen Ländern gibt es Staatskrisen wegen des fehlenden Geldes. Die Grundversorgung der Bevölkerung ist nicht mehr gewährleistet. Flucht und Vertreibung sind die Folge.

Es gibt auch Gewinner der Krise. Sollte man sie zur Kasse bitten?

Ja. Um global tätige Konzerne zu beteiligen, brauchen wir eine Finanztransaktions- und eine Digitalsteuer. Die zehn reichsten Menschen auf der Welt sind in der Krise um 500 Milliarden US-Dollar reicher geworden. Allein das Vermögen des Amazon-Gründers Jeff Bezos ist um 60 bis 80 Milliarden US-Dollar gewachsen. Im Vergleich dazu sollte es möglich sein, 22 Milliarden Dollar zur Finanzierung der weltweit gerechten Verteilung von Covid-19 Impfstoffen, Diagnostika und Arzneimittel zu finanzieren. Da stimmen die Verhältnisse einfach nicht mehr.

Wann könnte die Weltbevölkerung Ihrer Meinung nach durchgeimpft sein?

2022 sollte das gelingen, wenn die Impfstoffproduktion wie erwartet steigt. Doch das Virus mutiert. Dann kann es sein, dass wir wieder neue Impfstoffe brauchen und die globale Impfkampagne zur Daueraufgabe wird.