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Uwe Linke, studierter Designer, Paartherapeut und "Wohnpsychologe" sagt, was das für uns bedeutet und wie wir die Situation optimal nutzen können.

Herr Linke, hat Wohnen seit Corona einen anderen Stellenwert?

Natürlich, vielen Menschen wird bewusst, wie wichtig die eigenen vier Wände sind. Und wie störend Aspekte, die nicht stimmig wirken. Der Druck, Veränderungen in Angriff zu nehmen, wird größer, wenn man ständig Provisorien vor Augen hat.

Für viele war die Wohnung aber doch schon vor Corona weit mehr als ein Dach über dem Kopf.

Ja, nach Feierabend will man sich zu Hause erholen und auftanken. Bislang galt das vor allem körperlich. Jetzt will auch der Geist inspiriert werden – das ist in dieser Intensität neu. Anregungen, die sonst vielfach aus dem Außen kamen, sollen innerhalb des Zu Hauses zu finden sein. Wo es mehrere Mitglieder in einem Haushalt gibt, mag das leichter fallen, hier wird die Wohnsituation aktuell von einem anderen Thema dominiert: Dem Bedürfnis nach Abgrenzung, das jetzt viel stärker eingefordert werden muss. Zu Hause zu bleiben ist ja sozusagen eine Verordnung, die Nähe der anderen etwas Aufgezwungenes. Generell lässt sich feststellen, dass wir stärker denn je mit der eigenen Wohnsituation konfrontiert sind. Und auch, dass Trends durch die aktuelle Situation infrage gestellt werden.

Gibt es Wohntrends, die neuerdings nicht mehr zeitgemäß sind?

Zuletzt waren ja vor allem ineinanderfließende Wohnkonzepte beliebt.  Die zum Esszimmer hin offene Küche und der Wohnbereich war oft auch noch  im selben Raum. Vor allem für Familien erweisen sich solche offenen  Grundrisse in der Lockdown-Zeit als schwierig. Aber auch der Single mit  der Ein-Zimmer-Wohnung, der im selben Raum isst, arbeitet und schläft,  ist neu gefordert. Beim Unterschreiben des Mietvertrags hat er ja nicht  ahnen können, dass diese Wohnung über weite Strecken auch Arbeitsplatz  sein würde.

Uwe Linke

Uwe Linke

Ist das denn in jedem Fall problematisch, wenn man denselben Raum zum Wohnen und zum Arbeiten nutzt?

Interessanterweise ist weniger die räumliche Situation entscheidend als die innere Haltung. Üblicherweise ist der Gang zur Arbeit von Ritualen begleitet: Ich ziehe mich an, richte mich her, bestreite einen Weg. Ich bin sozusagen von Kopf bis Fuß auf Arbeit eingestellt. In diesem Zustand bekomme ich beispielsweise sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich ein privates Telefonat führe. Aber ist das zu Hause auch so? Studien zeigen: Unser Gehirn braucht eine viertel Stunde, bis es nach einer Störung wieder in tief in ein Thema findet. Dass die Leute im Home-Office im Schnitt länger und mehr arbeiten ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich. Das soll aber nicht heißen, dass es nicht auch anders geht. Wichtig ist, dass Verhaltensmuster entsprechend angepasst werden. Dass es zum Beispiel definierte Bürozeiten gibt und man in dieser Zeit die "privaten" Möglichkeiten - den Kaffee oder Snack hier, den Whatsapp-Plausch da - konsequent nicht nutzt. Hier kommt nun die WohnpPsychologie ins Spiel, denn gewisse Strukturierungen im Außen können dabei helfen, das Verhalten und damit etwa Work-Life-Situationen positiv zu regulieren.

Nehmen wir die Ein-Zimmer-Wohnung: Wie kann hier eine gute Strukturierung gelingen? Wie stelle ich sicher, dass Job und Privates nicht zu sehr ineinander gehen?

Entscheidend sind Rituale, die den Übergang vom einen zum anderen definieren, die dem Gehirn also signalisieren: Jetzt wird umgestellt. So banal das klingt: Manch einem gelingt das bereits, wenn er eine bestimmte Kaffeetasse vor sich abstellt. Ein Teil meiner Kunden hat gute Erfahrungen mit Schreibtischauflagen gemacht. Es gibt U-förmige Aufsteller aus Filz, die nach vorne und zur Seite hin sowohl einen optischen als auch einen akustischen Schutz darstellen. Wenn ich den Platz entsprechend umgestalte, bin ich mental sofort im Büro, sagt eine meiner Kundinnen. Eine andere hat sich einen Paravent angeschafft, einen klappbaren Raumteiler. Wenn sie im Home-Office ist, stellt sie diesen neben den Schreibtisch auf. An der Seite in Richtung Schreibtisch sind eine Pinnwand und ein Kalender befestigt. Möglicherweise ist der Schutz vor Ablenkung am Ende geringer als das Signal, dass die Dame jeden Morgen beim Aufstellen des Sichtschutzes bekommt: Jetzt beginnt der Job. Auch Lichtquellen können bei der Bewusstwerdung helfen. 500 Lux gelten am Arbeitsplatz als Mindestwert. Kaum ein Schreibtisch im Home-Office dürfte da rankommen. Eine gute Faustregel ist: Am Arbeitsplatz sollte es dreimal so hell sein wie am Esstisch.

Und wenn ich denselben Tisch fürs Arbeiten nutze wie zum Essen?

Dann kann ich zum Beispiel mit einer Lampe arbeiten, die ich nur während der Arbeitszeit auf dem Tisch platziere, idealerwiese hat sie ein eher kühles, blaues Licht. Warmes, weiches Licht ist ungeeignet, da es dem Gehirn signalisiert, dass wir bald schlafen gehen. Dieses Licht kann dann ja nach Feierabend zum Einsatz kommen. Nicht nur für Ein-Zimmer-Wohnungen, ganz generell bietet sich das Spielen und Arbeiten mit dem Definieren und Abgrenzen bestimmter Bereiche an. Über bodentiefe Vorhänge oder den Einsatz mobiler Lichtquellen lässt sich Überraschendes erreichen.

Aus dem Vorhandenen etwas Besseres machen, das scheint aktuell das große Thema?

Ja, kaum jemand zieht zurzeit schließlich um. Tatsächlich erlebe ich oft, das Wohnsituationen stehen geblieben sind, während sich die Bewohner und ihre Bedürfnisse verändert haben. Eine Frage, die einige beschäftigt, ist gerade die nach dem Gästezimmer: Wozu? Wo ist so viele gute und günstige B&B-Anbieter gibt? Wir befinden uns in einem großen Veränderungsprozess, auch und gerade beim Wohnen. Ich kann nur dazu ermutigen, diesen Prozess anzunehmen und die eigene Wohnsituation einmal genauer zu beleuchten. Von einem komplett neuen Lebensgefühl sprechen Kunden, die Wohnroutinen durchbrochen haben. Übrigens bei weitem nicht nur die, die große Umbau- oder Umräum-Maßnahmen vorgenommen haben. Schon kleine Veränderungen wirken zuweilen stark und man fühlt sich dann vielleicht ähnlich inspiriert oder beflügelt wie früher, wenn man weggefahren ist oder jemanden getroffen hat.

Können Sie Beispiele für kleine Veränderungen nennen, die etwas bewirken?

Ach, die Möglichkeiten sind endlos. Ein Bild, die neue Tagesdecke fürs Sofa, ein paar bunte Kissen oder die Pflanzenecke... der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Generell gilt: Über Licht und Farbe hat man die stärksten Effekte. Wichtig ist, dass die Veränderungen nicht durch übernommene Ideen und Inhalte geschieht, sondern aktiv und übers eigene Gestalten. 

Schicke Möbel oder teures Design sind also nicht ausschlaggebend fürs Wohlgefühl?

Keineswegs. Wenn Konzepte von Experten vorgegeben sind, die mit den emotionalen Bedürfnissen der Bewohner Nutzern der Häuser kaum in Berührung kommen, ist das oft sogar eher hinderlich. Ebenfalls wenig hilfreich: Wenn Möbelhersteller, Kataloge oder Zeitschriften vorführen, wie man wohnen soll und was man tun muss, um es richtig zu machen. Wohnkonzepte von der Stange können schon allein deshalb nicht funktionieren, weil Menschen ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben. Der eine fühlt sich in der Höhle geborgen, der andere möchte Weite um sich. Naturmaterialien wie Holz können Halt und Wärme geben. Oder als hölzern wahrgenommen und mit Steife und Festgefahren-Sein assoziiert werden.

Wie gehen Sie vor, wenn sie zu einem neuen Kunden kommen? Wie gelingt es, eine authentische Wohnsituation zu erschaffen?

Bevor wir an konkrete Gestaltungsprozesse gehen, biete ich an, spielerisch mit einer Material- und Farbcollage zu arbeiten. Meine Kunden können aus 600 verschiedenen Material- und Textilmustern auswählen. Wo geht es farblich hin, welche Textur, welche Haptik spricht an? Die spontan entstehenden Bilder sind erstaunlich aussagefähig, weil sie was von einer Vision haben, weil sie Raum lassen für Intuition, für Bauchgefühl.

Und das kommt sonst eher zu kurz?

Leider ja. Fremdbilder überlagern das eigene. Neulich wieder, da stand dieser Sessel. Da lese ich ganz gern mal ein Buch, sagte der Kunde. Und wann haben Sie zuletzt eins gelesen? fragte ich. Er musste lange überlegen. Solange Sehnsucht- und Wohlfühlbilder, die wir mit uns rumtragen, nicht unsere eigenen Bilder sind, wird sich kein Wohlfühlen einstellen. Wunschdenken und insbesondere auch die Werbung sind starke Triebkräfte. Solche Täuschungen helfe ich aufzudecken, erst dann können Veränderungen angegangen werden. Schritt für Schritt. Dass man Dinge ausprobiert und auch wieder rückgängig macht, ist normal. Gestaltung braucht Zeit.

Was raten Sie Menschen, die ohne professionelle Beratung aktiv werden wollen?

Einen ausgiebigen, bewussten Rundgang durch die eigenen vier Wände. Bisher habe ich immer gesagt: Nutzen Sie die Zeit nach dem Urlaub dafür. Die Wahrnehmung ist dann frischer, man kommt ein bisschen wie ein Fremder zur Tür rein. Jetzt, wo Reisen nicht geht, kann man das aber trotzdem versuchen: Das eigene Heim mit dem Blick eines Fremden wahrzunehmen. Erst mit einer gewissen Distanz gelingt es uns, Gewohntes zu hinterfragen: Fühle ich mich im Eingangsbereich wirklich willkommen? Ist das Schlafzimmer ein Ort, an dem ich zur Ruhe kommen kann? Mir persönlich fällt bei Rundgängen durch Wohnungen oft auf, dass die Couch auf den Fernseher ausgerichtet ist. Und nicht zum Fenster hin, wo man Licht und vielleicht auch Inspiration bekommen könnte. Über eine schwenkbares Gerät oder eines auf Rollen ließe sich leicht was verändern. Und vielleicht fragt man sich dann ganz automatisch: Muss ich eigentlich immer gleich den Fernseher anmachen, wenn ich mich hinsetze? Oder gehe ich ganz bewusst über bestimmte Wohnentscheidungen einen anderen Weg? Jetzt, in diesen Tagen und vielleicht auch unabhängig von der Frage, wie lang die Pandemie noch geht und ob eine neue folgen wird. Wohnraum wird immer teurer, der Trend hält an. Entsprechend dürfte die Überlegung, wie die vorhandenen Quadratmeter genutzt werden, weiter an Bedeutung gewinnen.