Schilddrüsenunterfunktion: Ab wann behandeln?
Mangelt es an Schilddrüsenhormonen, wirkt sich das auf viele Funktionen des Körpers aus. Aber muss bereits eine leichte Unterfunktion mit Thyroxin therapiert werden?

Funktionsstörungen der Schilddrüse können sich auf den ganzen Körper auswirken
Die Hormone der Schilddrüse sind wichtige Antreiber des Stoffwechsels. Ein Mangel hat viele negative Folgen: Beschwerden wie Müdigkeit, sexuelle Unlust und Verstopfung sind einige davon.
Die Therapie mit dem Hormon Thyroxin kann all die Probleme beheben oder zumindest abmildern. Niemand bezweifelt ihre Notwendigkeit bei einer Unterfunktion der Schilddrüse.
Werden Thyroxintabletten zu schnell verordnet?
Weniger eindeutig verhält es sich, wenn nur ein indirekter Test warnt: Das Organ könnte schwächeln. Ärzte sprechen von einer latenten, also leichten Unterfunktion, wenn nur der Laborwert für das Gehirnhormon TSH erhöht ist, das die Schilddrüse zur Hormonbildung anregt.
"Es ist gängige Praxis, in solchen Fällen sehr großzügig Thyroxintabletten zu verordnen", sagt Professor Matthias Weber, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Ein Vorgehen, das Hormonexperten bereits seit Längerem infrage stellen. Doch es fehlte bislang an klärenden Daten.
Regelkreis der Schilddrüse


Normale Funktion
➀ Die Hirnanhangdrüse gibt das Hormon Thyreotropin (Thyreoidea-stimulierendes Hormon, kurz TSH) in das Blut ab. Das TSH bindet an Zellen in der Schilddrüse.
➁ Die Schilddrüse bildet auf dieses Signal hin die Hormone Trijodthyronin (T3) und Thyroxin (T4) und setzt sie ins Blut frei. Die Hormone aktivieren im ganzen Körper den Stoffwechsel.
➂ T3 und T4 drosseln die Freisetzung von TSH und begrenzen so die Menge an TSH im Blut. Als normal gelten in der Regel Werte von 0,4 bis 4 Millieinheiten pro Liter Blut.

Unterfunktion
Weil die Schilddrüse zu wenig Hormone abgibt, schüttet die Hirnanhangdrüse mehr TSH aus, um die Schilddrüse zu stimulieren.
Der Mangel an Schilddrüsenhormonen führt zu Symptomen wie Müdigkeit, Antriebsarmut, Verstimmungen, Muskelbeschwerden, brüchigen Haaren und Nägeln, Verstopfung, sexueller Unlust und erhöhtem Herzinfarkt-Risiko. Eine Therapie mit Thyroxin ist nötig.

Latente Unterfunktion
Der Laborwert für Schilddrüsenhormone liegt im Normalbereich. Doch der erhöhte TSH-Wert zeigt an, dass die Schilddrüse schwächeln könnte. Die europäische Schilddrüsenvereinigung rät:
Bei TSH-Werten von 4 bis10 erhalten unter 70-Jährige mit typischen Beschwerden probeweise Thyroxin. Nach drei Monaten werden Laborwerte und Therapieerfolg kontrolliert. Ältere bleiben ohne Therapie und werden nach einem halben Jahr erneut untersucht.
Bei TSH-Werten von über 10 erhalten unter 70-Jährige Thyroxin, ältere nur bei eindeutigen Symptomen und einem hohen Herzinfarkt-Risiko.
Studie: Bei latenter Unterfunktion keine Vorteile durch Tabletten
Diese Daten lieferte eine große europäische Vergleichsstudie vor genau einem Jahr. Darin erhielten Senioren mit latenter Unterfunktion, doch ohne besondere Beschwerden eine Thyroxintherapie.
Zwar normalisierten sich dadurch die TSH-Werte, doch es gab keine positiven Effekte auf die Gesundheit: weder auf die Muskelkraft noch aufs Denkvermögen, weder auf das Körpergewicht noch auf den Blutdruck. Auch in puncto Müdigkeit und Lebensqualität hatten die Behandelten keinen Vorteil gegenüber denjenigen, die lediglich ein Scheinpräparat schluckten. Alle Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine publiziert.
Mehrere Kriterien sind wichtig für die Therapieentscheidung
"Die Studie bestätigt: Ob eine Therapie sinnvoll ist, hängt von mehreren Faktoren ab", kommentiert Weber. Dazu zählen TSH-Wert, Alter, Beschwerden und weitere Befunde des Patienten.
Nach den Empfehlungen der Europäischen Schilddrüsenvereinigung wäre in den meisten Fällen keine Therapie nötig gewesen: bei einem Altersschnitt von 72 Jahren, TSH-Werten nicht weit über dem Normalbereich und ohne klare Symptome. Doch in anderen Fällen sollte eine latente Unterfunktion therapiert werden.
TSH-Spiegel kann erheblich schwanken – mehrmals messen
Professor Werner Scherbaum, Hormonexperte von der Universitätsklinik Düsseldorf, hält eine weitere Lektion für ebenso wichtig: "Der TSH-Wert im Blut schwankt sehr stark. Deshalb muss man die Messung nach frühestens drei Monaten wiederholen und darf erst dann die Diagnose einer latenten Unterfunktion stellen."
In der Studie erfolgte der zweite Test vorgabegemäß. Ergebnis: Bei 60 Prozent der Untersuchten hatte sich der TSH-Spiegel von selbst normalisiert. Sie hatten also nicht mal eine latente Unterfunktion und kamen schon deshalb nicht für eine Therapie infrage.