Minderwertigkeitskomplexe überwinden, so geht's!
Das lähmende Gefühl, nicht gut genug zu sein, führt zu Ängsten und Hemmungen. Ein Psychotherapeut gibt Tipps, was gegen solche Komplexe hilft
Minderwertigskomplexe besiegen per Autosuggestion: Sich das angestrebte Ziel vorstellen und die Etappen dorthin genau planen
Fehler unterlaufen allen Menschen, niemand ist vollkommen. Um seinen Klienten dies zu verdeutlichen, lässt sie Psychotherapeut und Coach Dr. Stephan Lermer an einer Zimmerpflanze in seiner Praxis ein perfektes Blatt suchen. Überrascht stellen sie dann fest, dass jedes Blatt kleine Schrammen, Wellen oder Flecken hat. Genauso wenig wie es ein rundum perfektes Blatt gibt, sind auch Menschen nicht makellos.
Minderwertigkeitsgefühle gehören zur normalen Entwicklung
Die Erkenntnis, nicht frei von Fehlern zu sein, befällt fast jeden früher oder später. Das muß aber noch nicht Komplexe auslösen. "Jeder klar denkende Mensch erfährt schon früh im Leben moderate Minderwertigkeitsgefühle, das ist völlig normal", sagt Lermer.
Das fängt damit an, wenn ein Kind nach und nach die Regeln des Zusammenlebens erkennt. Es begreift schließlich, dass die eigene Leistung wichtig für den Rang in der Gesellschaft ist. Und es entdeckt, dass die Erwachsenen Fähigkeiten haben und Tätigkeiten verrichten, die es selbst noch nicht beherrscht. Essen kochen zum Beispiel. Fahrrad fahren. Oder Geld verdienen.
Wenn Minderwertigkeitsgefühle zu Komplexen werden
"Insofern ist ein normal ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl eine starke Motivation, um sich neue Fähigkeiten anzueignen", sagt Lermer. Manchmal wird aber das Gefühl so stark, dass der Mensch glaubt, Erwartungen nicht erfüllen zu können. Ursache kann der Vergleich mit anderen sein oder auch die Irritation, wenn sich ein Freund oder Partner abwendet. Häufen sich solche Erlebnisse, können sie schließlich das ganze Denken prägen. Das Gefühl wird zu einem vielschichtigen Komplex. Dann entsteht mitunter ein Leidensdruck, der Betroffene in die Praxis eines Psychotherapeuten oder Coaches führt.
"Bestimmte Lebensphasen und Einschnitte lösen die Problematik öfter aus", berichtet Experte Stephan Lermer: zum Beispiel in der Pubertät der Übergang zum Erwachsensein oder wenn der Erwachsene die ersten Karriereschritte macht. "Auch wenn mit vierzig Jahren die Midlife-Crisis kommt oder wenn ein Sechzigjähriger denkt, das Leben wäre vorbei, kann das Minderwertigkeitskomplexe triggern", erklärt Lermer. Er hat zudem Menschen erlebt, die zwar beruflich erfolgreich sind, sich aber im privaten Bereich als Versager fühlen.
Diese Ratschläge können dann helfen, die Komplexe zu überwinden:
Sechs Tipps, um Minderwertigkeitskomplexe aufzulösen
1. Den Blick auf die eigenen Stärken richten
Psychotherapeut Stephan Lermer empfiehlt, sich bei neuen Herausforderungen der eigenen Stärken bewusst zu werden. Seine Patienten sollen sich vor Augen halten, was sie im Leben bereits alles gemeistert haben. Das können bisher erreichte Schulabschlüsse, erhaltene Auszeichnungen, überstandene Krisen oder ein Blick auf das eigene Gehalt sein. Zum Beispiel vor einem Vortrag kann es auch helfen, sich an frühere gelungene Auftritte vor Menschenmengen zu erinnern und den Applaus, den es damals gab.
Im privaten Bereich sollte man an Menschen denken, die einen mögen und schätzen, ohne dass man dafür etwas geleistet haben muss. Meistens zählen Freunde und die eigene Familie dazu, die einem Sympathie und Liebe entgegenbringen. "Wem gerade niemand einfällt, dem hilft es vielleicht, sich an den letzten Geburtstag zu erinnern, von wem alles Glückwünsche kamen", sagt Lermer.
2. Sich nicht von Schuldkomplexen lähmen lassen
Rühren die Komplexe von früheren gescheiterten Aufgaben oder Projekten her, kann eine neutrale Analyse der Gründe für das Scheitern hilfreich sein. Oft genug liegt es an Umständen, die man gar nicht selbst beeinflussen konnte.
"Und selbst wenn man falsche Entscheidungen getroffen hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man grundsätzlich ungeeignet ist", sagt Psychotherapeut Lermer.
3. Eigene Schwächen akzeptieren
Wer akzeptiert, dass jede Persönlichkeit Licht- und Schattenseiten hat, kann gelassener zu seinen Schwächen stehen, zum Beispiel beim Kennenlernen eines neuen Partners. Für Bewerbungsgespräche hält es Lermer für hilfreich, sich darauf vorzubereiten, eigene Schwachpunkte zu benennen: "Wer sich dazu bekennt, punktet, weil er sich realistisch orientiert zeigt. Er will sich nicht unrealistisch darstellen, sondern beweist, dass er daran arbeitet, seine Persönlichkeit zu optimieren." Freilich sollten es keine Schwachstellen sein, durch die der Bewerber als ungeeignet für die Stelle erscheint.
Niederlagen können zudem ein wertvoller Anstoß für die eigene Entwicklung sein. Lermer erzählt vom Besitzer einer Hotelkette, der bei einer anonymen Umfrage seiner Mitarbeiter miserabel bewertet wurde. Schockiert nahm er sich daraufhin eine Auszeit im Kloster und überdachte sein Welt- und Menschenbild. Anschließend krempelte er die Kultur seines Unternehmens völlig um. Mit großem Erfolg.
4. Weitermachen und andere Stärken erkennen
Wichtig ist, sich nicht von dem Gedanken lähmen zu lassen, dass man durch früheres Versagen Schuld auf sich geladen hat. Experte Lermer bemerkt, dass im deutschen Sprachgebrauch Verantwortung und Schuld so nah beieinander lägen: "Die Konsequenz kann höchst fatal sein, wenn niemand mehr etwas Neues wagen und verantwortlich sein möchte, weil er am Ende nicht schuld sein will, falls etwas schiefgeht."
Scheitert ein Mensch allerdings immer wieder an ähnlichen Projekten, muss er darin ein Systemproblem erkennen und auflösen. Vielleicht liegen seine Stärken doch in anderen Bereichen? Oder aber die Umstände, in denen man seine Leistung erbringen soll, passen nicht zur eigenen Persönlichkeit: Beispielsweise kommen manche als Selbständige nicht mit der Verantwortung zurecht, sind aber brillant als Angestellte mit festen Vorgaben. Umgekehrt haben andere große Probleme, sich einem Vorgesetzten unterzuordnen. Ohne Angestelltenverhältnis blühen sie auf.
5. Autosuggestion kann helfen
Ein anderer Hinderungsgrund für den eigenen Erfolg können anerzogene Muster sein. Wer von Kind auf immer wieder Sätze wie "Das schaffst Du eh nicht" hören musste, entwickelt schwer eine positive Grundeinstellung zu seinen eigenen Fähigkeiten. Dann kann die Technik der Autosuggestion helfen. Dabei malt man sich in der Vorstellung aus, wie man bereits ein angestrebtes Ziel erreicht hat. Mit diesem Bild vor Augen nimmt man anschließend die einzelnen Etappen in Angriff, die zu dem Ziel führen.
Wer beispielsweise einen Berg erklimmen will, stellt sich vor, wie er am Gipfelkreuz steht. Dabei kommt automatisch die Frage auf, welche Ausrüstung für den Aufstieg nötig ist und welche Fähigkeiten der Bergsteiger außerdem benötigt. So ergeben sich die nächsten Schritte.
6. Gesunder Geist im starken Körper
Auch eine spirituelle Einbettung, sei es durch Philosophie oder Religion, hilft vielen Menschen dabei, ihre Ängste zu überwinden und ein stimmiges Selbstwertgefühl aufzubauen. Darüber hinaus kann körperliches Training dem Ego Auftrieb verleihen: Es gibt Kraft, macht den Kopf klar und führt zu Erfolgserlebnissen. "Ausgewogenes Training bewirkt außerdem eine aufrechte Körperhaltung, die von der Umgebung als Erfolgshaltung gesehen wird", so Lermer.
Übertriebenes Bodybuilding und protzige Statusobjekte können freilich auch belächelt werden. Dennoch kann es das eigene Selbstwertgefühl stärken, sich beispielsweise gut zu kleiden. Lermer: "Unauffällige, aber hochwertige Gegenstände können dem Gegenüber zeigen, dass man sich selbst etwas wert ist, nach dem Motto: Ich achte auf Qualität, weil ich selbst auch für Qualität stehen möchte."