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Täglich prasseln unzählige Reize auf uns ein. Geräusche, Gerüche, Berührungen, Lichter. Manche Menschen scheinen da­rauf besonders stark zu reagieren, scheinen Umwelteinflüsse anders zu verarbeiten. Die Psychologie spricht dann von Hochsensibilität.

In der Wissenschaft ist diese Theorie jedoch umstritten. Die Diplom-Psychologin Dr. Sandra Konrad hat an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zu dem Thema geforscht.

Frau Dr. Konrad, was genau bedeutet Hochsensibilität?

Den Begriff hat die US-amerikanische Psycho­login Elaine Aron in den 1990ern geprägt. Sie spricht von vier Indikatoren für Hochsensibilität: Betroffene haben eine niedrige sensorische Reizschwelle, sie reagieren sehr stark und schnell auf verschiedene Reize und verarbeiten sie tiefer – zum Beispiel schwingen Emotionen länger nach. Der letzte Indikator ist, dass sie reizintensive Situationen meiden.

Auf welche Reize bezieht sich das?

Viele reagieren vor allem empfindlich auf Geräusche. Aber auch Gerüche nehmen Betroffene oft intensiver wahr. Menschenmassen zum Beispiel können für sie daher sehr anstrengend sein.

Hochsensible Menschen sind außerdem generell emotionaler und können bestimmte Erfahrungen dadurch mehr auskosten, zum Beispiel einen schlichten Spaziergang in der Natur. Es besteht eine hohe Ansprechbarkeit auf sämtliche Reize – positive wie negative.

Unter Wissenschaftlern ist umstritten, ob es Hochsensibilität tatsächlich gibt. Lässt sie sich zum Beispiel im Gehirn von Betroffenen nachweisen?

Es gibt bestimmte Studien mit Magnetresonanztomografie (MRT), die nahelegen, dass bei Hochsensiblen bestimmte Hirnareale stärker aktiviert werden. Aber die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen. Relativ unbestritten ist allerdings, dass Menschen generell Reize unterschiedlich wahrnehmen und verarbeiten.

Die Vermutung ist, dass das Ganze bei Hochsensiblen potenziert ist. Bisher gibt es aber noch kein physiologisches Verfahren, um eine Hochsensibilität festzustellen. Es braucht dringend weitere Studien.

Dr. Dandra Konrad ist Diplom-Psychologin und Expertin für Hochsensibilität. An der Helmut-Schmidt Universität Hamburg hat sie Studien zu dem Thema durchgeführt

Dr. Dandra Konrad ist Diplom-Psychologin und Expertin für Hochsensibilität. An der Helmut-Schmidt Universität Hamburg hat sie Studien zu dem Thema durchgeführt

Wie wird Hochsensibilität denn aktuell diagnostiziert?

Momentan funktioniert es über Selbstbeschreibungen in einem Fragebogen. Elaine Aron hat ihn vorgelegt, wir haben ihn ins Deutsche übersetzt und wissenschaftlich geprüft. Leider ist der Fragebogen nicht optimal. Bei einer Angststörung zum Beispiel sind die ermittelten Werte ebenfalls erhöht: Bin ich ständig in Alarm­bereitschaft, nehme ich Informationen auch stärker wahr und fühle mich irgendwann ­überreizt.

Im Gegensatz zur Angststörung ist Hochsensibilität aber keine Erkrankung.

Genau, es ist keine psychische Störung. Laut Schätzungen sind 15 bis 20 Prozent der Be­völkerung hochsensibel. Eine neuere Studie spricht sogar von 30 Prozent.

Die Zahl erscheint sehr hoch.

Hochsensibilität ist in der Tat kein Merkmal, das selten auftritt. Es ist ganz normal für jeden Menschen, in irgendeiner Weise auf seine Umwelt zu reagieren. Hochsensible tun das einfach stärker.

Sie haben die Persönlichkeit von hochsensiblen Menschen untersucht. Was sind ihre wichtigsten Erkenntnisse?

In der Psychologie gibt es die sogenannten Big Five. Das sind Faktoren, die die individuelle Persönlichkeit umfassend erklären sollen. Hier zeigt sich ein bestimmtes Muster: Hochsensible beschreiben sich meist als sehr offen für neue Erfahrungen, aber zugleich als tendenziell emotional instabil und introvertiert. Bei Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit liegen sie eher im Durchschnitt.

Könnte man dann nicht einfach von einer bestimmten Persönlichkeit sprechen? Wozu die Bezeichnung Hochsensibilität?

Die fünf Faktoren decken längst nicht die ganze Varianz von Hochsensibilität auf, sondern nur etwa 30 Prozent. Deshalb handelt es sich meiner Meinung nach nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal. Ich würde eher von einem bestimmten Temperament sprechen: Hochsen­sible Menschen preschen nicht vor, sondern wägen erst ab, bevor sie handeln.

Was bringt Betroffenen die Diagnose?

Da es keine Krankheit ist, hat man keine Vergünstigungen oder Ähnliches. Es gibt natürlich auch keine Medikamente oder wissenschaftlich geprüften Therapiemöglichkeiten. Aber: Wenn man versteht, dass man stärker auf bestimmte Reize reagiert, kann man die Besonderheit vielleicht besser annehmen und sich in bestimmten Situationen anders verhalten.

Was raten Sie konkret?

Es ist vor allem wichtig, seine Grenzen zu kennen und auf Warnsignale des Körpers zu hören, sodass es gar nicht erst zu einer Überreizungsreaktion kommt. Das heißt nicht, dass man reizintensive Situationen strikt meiden sollte. Wenn man aber merkt, dass es zu viel wird, sollte man sich rausnehmen und etwas machen, was einem guttut. Der eine legt sich in die Bade­wanne, ein anderer malt.

Betroffene sollen sich also einfach nur regelmäßig Ruhephasen gönnen?

Genau. Es gibt auch Therapeuten oder Coaches, die sich mit dem Thema befassen und Hilfe anbieten. Aber Vorsicht! Hier wird oft Schindluder getrieben. Viele dieser Coaches wehren sich ­etwa gegen eine einheitliche Begriffsdefinition von Hochsensibilität – damit sie auch Leute ­behandeln können, die eigentlich gar nicht hochsensibel sind. Also sehr aufpassen und nur zu ausgebildeten Psychologen gehen!

Beim Recherchieren zu diesem Thema entsteht rasch der Eindruck, dass Hochsensibilität zunimmt.

Viele denken, dass sie hochsensibel sind. Und bei der Auswertung des Fragebogens stellt sich heraus: stimmt nicht. Ich würde nicht sagen, dass die Zahl der Betroffenen ansteigt. Die Medien berichten einfach mehr über das Thema, deshalb ist es präsenter.

Ist das tatsächlich der einzige Grund, dass sich zunehmend mehr Menschen selbst die Diagnose Hochsensibilität stellen?

Nein, ich habe noch eine andere Erklärung. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Umwelt massiv verändert und ist viel komplexer geworden. Der Mensch hat sich noch nicht da­ran angepasst. Da ist es vermutlich normal, dass unser Wahrnehmungssystem irgendwann signalisiert: Jetzt reichtʼs! Da muss nicht unbedingt eine Hochsensibilität dahinterstecken.

Adressen von Gesprächskreisen und spezialisierten Therapeuten bietet die Webseite des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität unter der Rubrik "Kontakte vor Ort": www.hochsensibel.org