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Geschlossene Grenzen und gehortete Schutzmasken und -kleidung: Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 haben die Europäer gesehen, was passiert, wenn ihre Länder gegeneinander – statt miteinander – arbeiten. Die EU-Kommission hat aus dieser Situation Lehren gezogen: In ihrer Rede zur Lage der Union am 16. September kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine stärkere europäische Gesundheitsunion und als eines der Schlüsselelemente eine EU-Arzneimittelstrategie an. Diese liegt nun vor. In den kommenden Jahren sollen auf Grundlage des knapp 30-seitigen Papiers konkrete Vorschläge, Leitlinien und Gesetze entstehen. Wir haben uns fünf Kernpunkte der Strategie genauer angesehen:

1. Arzneimittel-Lieferengpässe vermeiden

Seit Jahren gibt es in Europa Lieferengpässe bei wichtigen Arznei-Wirkstoffen. Die Pandemie hat diese Schwachstelle noch sichtbarer gemacht: In Deutschland stieg die Zahl der nicht verfügbaren Arzneimittel im ersten Halbjahr 2020 um 68 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Betroffen sind Medikamente gegen Depressionen und Parkinson, aber auch weit verbreitete Arzneimittel wie Blutdrucksenker. Grund dafür ist unter anderem die Abhängigkeit von Drittländern: 40 Prozent der Medikamente und 60 bis 80 Prozent der Inhaltsstoffe werden nicht in der EU produziert, sondern vor allem in China und Indien.

Die EU-Kommission will Produktion und Investition stärker zurück nach Europa holen. Als erster Schritt wird ein "strukturierter Dialog" mit Industrie, Behörden, Patienten- und Gesundheitsorganisationen und der Forschungsgemeinschaft eingeleitet, um die Schwachstellen in der globalen Lieferkette zu ergründen. Außerdem soll die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) mehr Kompetenz bekommen und zum Beispiel den Überblick über aktuelle Lagerbestände in der EU behalten.

Abhängigkeit von anderen Ländern reduzieren

Peter Liese, CDU-Europaabgeordneter und gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, begrüßt diesen Vorstoß. In den vergangenen Jahren sei allein auf die Kosten der Produktion und zu wenig auf die Versorgungssicherheit geachtet worden. "Es kann und darf nicht sein, dass die Arzneimittelversorgung für schwerkranke Patienten von einer einzigen Fabrik in China oder Indien abhängt. Ebenso wenig darf es sein, dass wir von einer einzelnen Fabrik in Europa abhängig sind, deren Produktion ja ebenso ausfallen kann", sagt Liese.

Er fordert mindestens zwei Produktionsstätten pro Ausgangssubstanz, eine davon in Europa. Eine stärkere EMA hält Liese für die richtige Stelle, um Engpässe frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Mathias Arnold, Vizepräsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) und des Zusammenschlusses der Apotheker in der Europäischen Union (ZAEU), befürwortet ebenfalls eine europäische Lösung der Arzneimittelknappheit.

2. Zugang zu Medikamenten für alle EU-Bürger

Vor allem neue Therapien kommen im Moment nicht in allen Mitgliedstaaten an, weil die Hersteller nicht verpflichtet sind, sie in der gesamten EU auf den Markt zu bringen. Zudem wird Herstellern über Patente Marktexklusivität garantiert, was die Verbreitung kostengünstigerer Arzneimittel wie Generika und Biosimilars bremst. Die Konsequenzen tragen die Patienten, denen etwa manche Behandlungen verwehrt bleiben, die Krankenhäuser, die aktuell 20 bis 30 Prozent ihres Budgets für Medikamente aufwenden müssen, und die staatlichen Gesundheitssysteme. Für mehr als die Hälfte der europäischen Länder sind die Arzneikosten eine starke finanzielle Belastung.

Um das zu ändern, will die Kommission Anreize für Unternehmen schaffen, die an einen breiteren Zugang geknüpft sind. Auch der Wettbewerb im Bereich der Generika und Biosimilar-Arzneimittel soll gefördert werden. Im Rahmen eines Pilotprojekts will die EU-Kommission die Ursachen für verzögerte Markteinführungen ergründen.

Kommission fordert mehr Zusammenarbeit bei Preispolitik

Die Kommission spricht sich zudem für eine stärkere europäische Zusammenarbeit bei der Preisgestaltungs- und Kostenerstattungspolitik aus, die sich in den Mitgliedstaaten stark unterscheidet. Leitlinien könnten in diesem Bereich für mehr Transparenz sorgen. ABDA- und ZAEU-Vizepräsident Arnold befürchtet allerdings, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten ein Hemmnis bleiben: "Wir schaffen einen einheitlichen Markt, haben aber unterschiedliche Preise. Die Frage ist: Wie wollen wir das regulieren? Solange wir keine einheitlichen Sozialsysteme haben, wird es auch mit den einheitlichen Preisen schwierig."

Der Europaabgeordnete Peter Liese sagt, dass die Souveränität der Mitgliedsstaaten natürlich weiterhin gelte: Wer Medikamente bestelle, müsse sie auch bezahlen. "Aber in der Pandemie hat sich auch die gemeinsame Beschaffung bewährt", so Liese. "Der Impfstoff kostet überall gleich viel und wenn die 27 EU-Länder als Marktmacht auftreten, kriegen sie bessere Konditionen als einzelne Staaten." Gerade für die kleineren EU-Länder sei das unverzichtbar.

3. Förderung von Forschung, Innovation und Nachhaltigkeit

Im Jahr 2019 investierte die Arzneimittelindustrie in Europa 37 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung, allerdings nicht immer in Bereiche mit dem größten Bedarf: Jährlich sterben schätzungsweise 33000 EU-Bürger an den Folgen antimikrobieller Resistenzen. Für 95 Prozent der etwa 6000 seltenen Krankheiten gibt es nach wie vor keine Behandlungsoptionen.

Die Kommission will die Forschungsprioritäten stärker auf die Bedürfnisse der Patienten und die Anforderungen der Gesundheitssysteme abstimmen. Vor allem in den Bereichen AMR, seltene und neurodegenerative Krankheiten und Kinderkrebs sollen Forschung und Innovation gefördert werden. 2022 will die Kommission einen Vorschlag für die Überarbeitung der Rechtsvorschriften über Arzneimittel für Kinder und seltene Krankheiten machen. Die bestehenden Vorschriften seien noch nicht perfekt, so Peter Liese. Vor allem bei den Krebsmedikamenten für Kinder haben die Regulierungen noch nicht dazu geführt, dass wir durchgreifende Fortschritte gemacht haben."

Darüber hinaus will die Kommission mit der Arzneimittelstrategie die umweltfreundliche Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Medikamenten fördern und so Umweltrisiken verringern. Letztlich wolle man mit der neuen Strategie "den gesamten Lebenszyklus eines Pharmaprodukts, von der Forschung, über klinische Versuche und die Anwendung bis hin zur sicheren Versorgung" abdecken, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am 26. November im EU-Parlament.

4. Eine EU-Behörde für die Krisenreaktion bei gesundheitlichen Notlagen

Als Covid-19 in Europa ausbrach, wurde deutlich, dass es bisher keinen EU-weiten Plan gibt, um auf grenzüberschreitende Gesundheitskrisen zu reagieren. Die EU-Kommission hat darum vorgeschlagen, eine Behörde für die Krisenreaktion bei gesundheitlichen Notlagen (Health Emergency Response Authority, HERA) zu errichten. Ein Vorschlag dafür soll im zweiten Halbjahr 2021 erfolgen.

HERA soll nicht nur Pläne für künftige Gefahren der öffentlichen Gesundheit erarbeiten, sondern auch Investitionslücken ermitteln und schließen sowie die Erforschung, die Herstellung und den Einsatz neuer Antibiotika koordinieren. Auch die Produktionskapazität, der Bedarf und die Verfügbarkeit von Rohstoffen für Arzneimittel und Schwachstellen in der Lieferkette könnten von der neuen Behörde überwacht werden.

5. Ein europäischer Raum für Gesundheitsdaten

Dass die Koordinierung in der Coronakrise auf die EU-Bürger anfangs chaotisch wirkte, hatte auch damit zu tun, dass die Länder unterschiedlich auf Ausbrüche reagierten. "Stellen Sie sich nur vor, was möglich gewesen wäre, wenn wir bereits Anfang 2020 einen voll funktionsfähigen Europäischen Gesundheitsdatenraum gehabt hätten, mit qualitativ hochwertigen und vergleichbaren Gesundheitsdaten", sagte Thomas Steffen, Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Mitte November bei der Eröffnung der Konferenz "Digital Health 2020 – EU on the Move".

Ein solcher gemeinsamer Datenraum oder "Common European Health Data Space" (EHDS) ist Teil der EU-Arzneimittelstrategie und soll Ende 2021 starten. Über den EHDS sollen Gesundheitsdaten über europäische Grenzen hinweg ausgetauscht werden, sodass die Bedürfnisse der Patienten oder Kenntnisse über neue Therapien und Behandlungen für alle Mitgliedsstaaten transparent sind. Auch grenzüberschreitende digitale Gesundheitsdienste, die die medizinische Versorgung der EU-Bürger gewährleisten, wenn sie außerhalb ihres Landes in der EU unterwegs sind, könnten so leichter bereitgestellt werden.

Voraussetzung ist aber die umfassende Digitalisierung der nationalen Gesundheitswesen. Bei der Pressekonferenz zur letzten Sitzung der EU-Gesundheitsminister unter deutscher Ratspräsidentschaft Anfang Dezember betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Bedeutung des Projekts für die Unabhängigkeit der EU: "Damit schaffen wir einen EU-weiten Rahmen, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu verbessern – und zwar nach unseren Werten und Standards und nicht in Abhängigkeit von Datenschutzvorstellungen in anderen Teilen der Welt."