Leben mit ME/CFS: Was das bedeutet
G93.3. Menschen mit ME/CFS kennen diesen Code. Er ist Teil des ICD-10-Codes, mit dem die Weltgesundheitsorganisation Krankheiten einordnet und über den Ärzte ihre Diagnosen stellen. G93.3 bedeutet: Chronisches Fatigue Syndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt – eingeordnet unter "sonstige Krankheiten des Nervensystems".
Für Menschen mit ME/CFS heißt das: Es gibt diese Krankheit. Sie bilden sich ihre Beschwerden nicht ein. Es ist keine psychische Erkrankung, wie so viele Ärzte und Ärztinnen behaupten, sondern eine neurologische. Obwohl das Chronische Fatigue Syndrom schon seit Jahrzehnten im ICD-10-Code steht, wissen Ärzte und Forscher immer noch nicht genau, was hinter dem Beschwerdekomplex steckt, über den so viele Menschen klagen. In Deutschland sind es schätzungsweise 240.000 bis 300.000.
Ist ME/CFS eine Autoimmunerkrankung?
Hierzulande gibt es lediglich eine Handvoll Wissenschaftler, die sich intensiv mit dem Syndrom befassen. Zwei davon sind Professorin Carmen Scheibenbogen, Leiterin der einzigen Spezialambulanz für Erwachsene mit ME/CFS an der Charitè in Berlin, und Professorin Uta Behrends von der Technischen Universität München, die die einzige Ambulanz für Kinder und Jugendliche mit der Krankheit leitet.
"Vieles spricht dafür, dass es sich bei ME/CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt, die unter anderem die Funktionen des autonomen Nervensystems stört", erklärt Scheibenbogen. Das autonome Nervensystem ist der Teil des Nervensystems, der nicht willentlich gesteuert wird. Es besteht aus einem aktivierenden Part, dem Sympathikus, und einem beruhigenden, dem Parasympathikus. Über beide Teile werden zahlreiche Körperfunktionen beeinflusst.
Auch Behrends berichtet über Hinweise, dass hinter dem Syndrom "eine Autoimmunkrankheit stecken könnte, die zu einer Fehlregulation des Immun- und Nervensystems sowie des zellulären Energiestoffwechsels führt". Auslöser scheint in den meisten Fällen eine Infektion zu sein, häufig eine mit dem Epstein-Barr-Virus, dem Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers. Wie es der Begriff "Syndrom" nahelegt, handelt es sich bei ME/CFS aber wahrscheinlich nicht um eine einheitliche Erkrankung. Vielmehr könnten sich mehrere Krankheitsbilder unter dem Schirm "Chronisches Fatigue Syndrom" sammeln, die zu ähnlichen Beschwerden führen.
Zahlreiche Symptome
Beschwerden finden sich zahlreiche, mit denen Betroffene zu kämpfen haben. Als charakteristisch gelten eine ausgeprägte Erschöpfung sowie eine Verschlimmerung praktisch aller Symptome nach zum Teil sehr geringer körperlicher oder geistiger Aktivität – die sogenannte Belastungsintoleranz. Dazu gesellen sich häufig chronische Kopf-, Muskel- und Gliederschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Konzentrations-, Gedächtnis- und Schlafstörungen, ein grippeartiges Gefühl und weitere Symptome. "Manche Patienten sind so schwer krank, dass sie vollständig bettlägerig sind und nicht mehr richtig kauen und schlucken können", so Scheibenbogen. Behrends ergänzt: "Die Lebensqualität dieser Menschen ist zum Teil erheblich eingeschränkt."
Niemand kann besser beschreiben, wie es sich anfühlt, diese Krankheit zu haben, als Betroffene selbst. Sitzt man beispielsweise Birgit S. gegenüber, wirkt die junge Frau aufgeweckt, fröhlich, neugierig – gesund. Dennoch ist ihr Leben nicht mehr das, was es einmal war.
Auch Thorsten Meier* (*Name von der Redaktion geändert) merkt man nichts an. Er sieht sportlich aus, trägt Outdoorkleidung, redet ruhig und gelassen. Und doch ist alles anders, als es scheint.
Es fehlt an Diagnoseverfahren und Therapien
Die beiden Fälle zeigen nicht nur, wie sehr ME/CFS das Leben der Erkrankten auf den Kopf stellt, sondern woran es noch mangelt: an geeigneten Diagnoseverfahren und Therapien. "Wir benötigen dringend Biomarker, um Patienten eindeutig diagnostizieren zu können", sagt Behrends. Das würde Betroffenen wie Birgit S. jahrelange Arzt-Odysseen ersparen. "Doch dafür müsste die Forschung besser gefördert werden. Derzeit finanziert sie sich in erster Linie über Spenden", ergänzt die Ärztin. Momentan wird die Diagnose per Ausschlussverfahren gestellt. Das heißt: Lässt sich keine andere Erkrankung finden, die zu ähnlichen Beschwerden führt, und passt der typische Symptomkomplex, dann gilt ME/CFS als sehr wahrscheinlich.
Da noch so wenig über die Krankheit bekannt ist, fehlt auch eine maßgeschneiderte Therapie. "Bislang können wir nur Symptome wie Schmerzen und Schlafstörungen behandeln", erläutert Scheibenbogen. Gegen die Belastungsintoleranz, die schon durch leichte Aktivitäten oder Stress ausgelöst wird und zu teils dramatischen Zustandsverschlechterungen führt, gibt es kein Patentrezept. "Hier hilft ein individuelles Energiemanagement", so Behrends. Also genau das, was Betroffene wie Birgit S. und Thorsten Meier machen: alles so weit herunterfahren, wie notwendig, um Überlastungen zu vermeiden. Das heißt: alle Aktivitäten der krankheitsbedingt eingeschränkten Energie so gut es geht anpassen.
Problem: Viele Ärzte kennen sich mit ME/CFS zu wenig aus
"Ein riesiges Problem ist zudem, dass sich viele Ärzte und Ärztinnen nicht mit der Krankheit auskennen", sagt Birgit Gustke, Vorsitzende des Selbsthilfevereins Fatigatio. Viele Betroffene werden fälschlicherweise für psychisch krank gehalten und bekommen keine oder kontraproduktive Therapien verordnet. Zum Beispiel Sport, der einen Menschen mit ME/CFS aber rasch körperlich überlasten kann.
So müssen Viele kämpfen, obwohl sie eigentlich keine Kraft haben. Nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit Krankenkassen, wenn es um die Erstattung bestimmter Untersuchungen geht, mit ihrer Rentenversicherung wegen der Genehmigung einer Erwerbsminderungsrente, mit Behörden, die den Schwerbehindertenausweis ausstellen. "Auch Freunde und Familie verstehen oft nicht, was mit dem Angehörigen los ist", so Gustke.
Initiativen von Betroffenen
Um für mehr Aufmerksamkeit, Anerkennung und Forschung zu sorgen, ergreifen Patientenorganisationen, Ärzte, Stiftungen und Privatleute die Initiative. Die Niederländerin Evelyn van den Brink, die schwer an ME/CFS erkrankt ist, ließ sich beispielsweise im Oktober 2019 im Krankenbett ins Europäische Parlament bringen. Mit Sätzen wie "wir sind nur unsichtbar, wenn man nicht hinsieht" und "auch Krebs, Multiple Sklerose und AIDS galten früher als psychisch bedingt, bis man die Ursachen herausfand" plädierte sie für mehr Mittel für die biomedizinische Forschung.
Im März 2020 fand ein erstes parlamentarisches Fachgespräch im Bundestag statt, bei dem Patientenorganisationen und Politiker über die schlechte Versorgungslage der Erkrankten in Deutschland sprachen. Ärztinnen wie Scheibenbogen und Behrends organisieren Fortbildungen für ihre medizinischen Kollegen. Und: "Wenn es mehr Geld für die Forschung gäbe und mehr Unterstützung seitens der pharmazeutischen Industrie, dann könnten wir wahrscheinlich in wenigen Jahren gezielte Medikamente entwickeln", hofft Scheibenbogen.