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Mitte November eskalierte ein Streit in einem Berliner Schnellrestaurant: Ein Mann versprühte einen Reizstoff, nachdem er der Gaststätte verwiesen worden war, weil er keinen Mund-Nasen-Schutz trug. Seit Beginn der Pandemie ist immer wieder von ähnlichen Konflikten zu lesen, etwa über Klopapier, Abstand oder Handhygiene. Manche Menschen schimpfen, andere werden gewalttätig. Macht uns die Corona-Krise aggressiver?

Durch Frustration liegen die Nerven blank

"Die Stimmung wird zunehmend gereizt", bestätigt Barbara Krahé, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam, die zu Aggressionen forscht. "Das sehen wir an den immer aggressiveren Anti-Corona-Demonstrationen und Gegendemonstrationen. Auch im Alltag zeigen viele Situationen, dass die Nerven blank liegen." Belegt ist ein Anstieg der Gewalt während der Pandemie bisher nur regional im häuslichen Umfeld: So verzeichnete etwa die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité im Juni 2020 30 Prozent mehr Fälle als im Vorjahresmonat.

Dass die Anspannung in der Öffentlichkeit steigt, hat verschiedene Gründe. "Wir erleben gerade in vielen Bereichen Frustration", erklärt Barbara Krahé. Treffen im größeren Freundeskreis sind verboten, Freizeitmöglichkeiten reduziert, Veranstaltungen abgesagt. "Auf Frustrationen reagieren Menschen mit einer erhöhten Neigung zu Aggression", so die Sozialpsychologin. Diese sogenannte Aggressions-Frustrations-Theorie ist bereits seit den 1940er Jahren bekannt.

Angst und eingeschränkte Freiheit führen zu Widerstand

Durch die Regeln zur Eindämmung der Pandemie sind wir zudem in unserer Freiheit eingeschränkt. "Auch das führt zu Widerstand, weil die Entscheidungsfreiheit ein menschliches Grundbedürfnis ist", erklärt Barbara Krahé. Psychologen nennen diesen Widerstand auch Reaktanz.

Daneben verspüren viele Unsicherheit und Angst, etwa vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus oder der beruflichen Zukunft. Fühlen Menschen sich bedroht, ziehen sie sich typischerweise entweder zurück – oder kämpfen gegen den vermeintlichen Gegner, werden also aggressiv (das besagt das psychologische Prinzip "Kampf oder Flucht").

Unter Stress fällt es ihnen noch schwerer, sich selbst zu kontrollieren, weil ihnen die nötige Konzentration und Energie fehlen. "Alles, was uns negativ beeinflusst, kann die Schwelle für aggressive Gedanken, Gefühle und letztlich auch für aggressives Verhalten senken", resümiert Barbara Krahé.

Bei Pöbeleien besonnen reagieren

Was aber tun, wenn jemand in Bus oder Supermarkt pöbelt? "De-Eskalation ist hier das Stichwort: Nicht selbst aggressiv werden, also keine Angriffsfläche bieten und im Gespräch sachlich bleiben", sagt Barbara Krahé. Nur so lasse man die Luft aus dem Konflikt heraus.

Das klingt bei einer Provokation leichter gesagt als getan. "Wenn ich mich nur ein bisschen über den anderen ärgere, kann ich höflich eine Grenze setzen. Ab einem hohen Ärgerniveau ist es mit der Freundlichkeit allerdings vorbei, weil wir innerlich aufgebracht sind. Wenn ich dann gereizt antworte, eskaliert meist die Situation", sagt auch Evelyn Summhammer. Die Psychologin und Psychotherapeutin aus Wien vermittelt vor allem bei Konflikten in Unternehmen. Um die eigene Reaktion zu entschärfen und den Angriff nicht persönlich zu nehmen, kann man sich klar machen, dass der andere nur ein Ventil für seine Frustration sucht.

Situation verlassen oder klare Grenzen setzen

Statt verbal zum Gegenschlag auszuholen, sollte man der Psychologin zufolge die Situation lieber verlassen. Oder sich ablenken, zum Beispiel weiter seiner Beschäftigung nachgehen. "Vielen fällt das schwer, weil sie Glaubenssätze verinnerlich haben wie: ,Das darf ich mir nicht gefallen lassen! Ich muss mich wehren!’", so Evelyn Summhammer. Dabei habe jeder Mensch die Wahl, ob er sich zum Teil des Problems einer anderen Person mache oder nicht. Pöbelt jemand trotzdem weiter und droht, handgreiflich zu werden, sollte man entschieden reagieren: "Stopp, lassen Sie das!" Und Hilfe holen.

Aggressionsforscherin Barbara Krahé erklärt, dass Menschen sich umso öfter und schneller aggressiv verhalten, je länger die gereizte Stimmung in der Krise andauert. Die Reaktion wird im Gehirn immer leichter abrufbar. Wer an sich selbst aggressive Tendenzen beobachtet, etwa weil jemand im Bus nicht genug Abstand hält, sollte versuchen, seinen Ärger durch verstärkte Selbstkontrolle im Zaum zu halten und den anderen höflich anzusprechen. "Die einzige erfolgsversprechende Strategie ist, sachbezogen zu argumentieren", so Barbara Krahé.

Stresshormone gezielt abbauen

Doch wie bekommt man die eigene Wut in den Griff? Indem man ihr zuvor kommt, Stress und Anspannung regelmäßig abbaut und insgesamt innerlich gelassener wird. Psychologin Evelyn Summhammer empfiehlt, Bewegung in den Alltag zu integrieren. Körperliche Aktivität baut Stresshormone ab und fordert Energie, die sich sonst womöglich in aggressivem Verhalten entlädt. Wer jetzt nur im Homeoffice sitzt, kann mittags zumindest eine Runde um den Block gehen. Wer ins Büro fährt, nimmt die Treppen statt den Aufzug. Noch besser sind Fahrradfahren, Joggen oder lange Spaziergänge.

"Um uns zusätzlich geistig zu entspannen, sollten wir den Fokus weg von dem Negativen rund um die Krise lenken und wieder stärker das Positive in unserem Alltag sehen, das es ja dennoch gibt", sagt Evelyn Summhammer. Dabei hilft zum Beispiel, sich jeden Abend an drei Momente zu erinnern, für die man an diesem Tag dankbar war. Das können auch kleine Dinge sein wie ein freundliches Gespräch oder ein gutes Essen.

Außerdem könne sich jeder fragen, was er im Leben an Positivem einbringen möchte, und zum Beispiel anderen Hilfe anbieten. "Die, die gerne für Menschen da sind, empfinden mehr Sinn in ihrem Dasein und kommen besser durch diese Zeit", so die Psychologin. Insgesamt gelte: "Wenn ich körperlich, geistig und emotional in Balance bin, fühle ich mich weniger schnell gereizt und kann dem respektlosen Verhalten anderer ruhiger und abgegrenzter begegnen."

Beruhigung, wenn die Pandemie abflaut

Auch die Politik könne darauf hinwirken, die Wogen zu glätten – indem sie zum Beispiel das Gefühl der Unsicherheit verringere, also die Gründe für Regeln und Einschränkungen klar kommuniziere, sagt Barbara Krahé. Dadurch fühlen sich Menschen weniger hilflos und empfinden mehr Kontrolle. Die gute Nachricht der Aggressionsforscherin: "Gehen die Infektionszahlen wieder zurück und ist ein Impfstoff ausreichend erhältlich, kann sich die Atmosphäre genauso schnell wieder beruhigen, wie sie sich aufgeheizt hat.