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Im Wissenschaftsbarometer der Gemeinnützigen Organisation "Wissenschaft im Dialog" erreichte das Vertrauen in Wissenschaft und Forschung im Frühjahr in Deutschland Höchstwerte. Im April gaben 73 Prozent an, dass sie eher oder voll und ganz in Wissenschaft und Forschung vertrauen. Mittlerweile liegt dieser Wert bei 60 Prozent, was immer noch mehr ist als 2019, wo er nur bei 46 Prozent lag.

Wir fragten Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Uni Zürich, über Vertrauen, Druck und scheinbare Uneinigkeiten unter Wissenschaftlern:

Wie steht es um das Vertrauen in Wissenschaft?

Die aktuellen Befragungen in Deutschland zeigen etwas, was wir hier in der Schweiz und in anderen Ländern auch sehen: Das Vertrauen in die Wissenschaft und auch in die Stimme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Experten ist in vielen Ländern hoch. Und es ist während der Pandemie noch gestiegen, auch wenn dieser Anstieg mittlerweile wieder etwas zurück gegangen ist. Dieses hohe Vertrauen ist sicherlich gut. Aber auch eine Herausforderung für die Wissenschaft.

Inwiefern ist die Pandemie eine Herausforderung für die Wissenschaft?

Selten zuvor waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so unter Druck. Zum neuen Coronavirus, den Krankheitsverläufen, der Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen und so weiter gab es anfangs wenig gesichertes Wissen in der Wissenschaft, und es gibt noch immer viele Unsicherheiten. Zugleich gab es aber in Bevölkerung und Politik den Wunsch nach klaren Antworten aus der Wissenschaft. Man musste ja handeln. Das Bedürfnis nach Erklärungen und Lösungsvorschlägen ist typisch für Krisen, das hat man zum Beispiel auch bei der Finanzkrise gesehen. Dass sich viele Menschen mit diesen Bedürfnissen nun an wissenschaftliche Experten wenden ist natürlich erfreulich. Aber diese hatten nicht immer sofort klare Antworten parat. Das kann dann auch dazu beitragen, dass manche Menschen nach einfachen, schnellen Antworten suchen. Allerdings zu dem hohen Preis, dass sie meist Unsinn sind.

Mike S. Schäfer, Professor an der Universität Zürich

Mike S. Schäfer, Professor an der Universität Zürich

Wozu führt das, wenn Wissenschaft unter Druck ist?

Da lässt sich mehrerlei beobachten. Erstens hat die Wissenschaft dadurch reagiert, dass viel mehr zum Thema Corona geforscht wird. Und das nicht nur in der Epidemiologie (die Wissenschaft, die sich mit der Verbreitung von Krankheiten in der Bevölkerung befasst) oder Virologie (der Forschung zu virusbedingten Erkrankungen), sondern überall, auch in meinem Fachbereich, der Kommunikationswissenschaft. Zweitens hat sich auch das Tempo des wissenschaftlichen Austauschs verändert. Zum Beispiel werden Veröffentlichungen wissenschaftlicher Ergebnisse momentan noch häufiger als sonst online gestellt, damit diese so schnell wie nur möglich anderen Forschern zugänglich sind.

Diese Vorveröffentlichungen, so genannte Preprints, sind aber noch nicht von Fachkollegen kritisch begutachtet worden. Man muss wissen, dass wissenschaftliche Arbeiten erst nach dieser Begutachtung das Gütesiegel der wissenschaftlichen Gemeinschaft haben. Oft müssen Studien nach dieser Prüfung nochmal überarbeitet werden. Das so genannte "Peer Review", die Überprüfung durch anonyme und unabhängige Fachleute, ist wichtig. Dass Diskussionen dabei teilweise kontrovers geführt werden, ist für Wissenschaftler etwas ganz Normales. Neu ist nun, dass der wissenschaftliche Austausch teilweise online und halb-öffentlich stattfindet. Von außen wird dabei mitunter etwas missverstanden.

Es entsteht der Eindruck, als wären sich die Fachleute uneins?

Ein Beispiel war eine Veröffentlichung des Virologen Christian Drosten von der Berliner Universitätsklinik Charité. Die BILD-Zeitung hat den von verschiedenen Wissenschaftlern kritisch geführten Dialog um eine Vorveröffentlichung von Drostens Team skandalisiert. "Kritik an Star-Virologe Drosten", hieß es dann, seine Studie sei laut anderer Forscher "unhaltbar" und so weiter. Dabei haben die Fachkollegen, die die Bild zitiert, schnell reagiert und klargestellt, dass sie die Zuspitzungen des Boulevard-Blattes nicht teilen. Aber das werden viele Leserinnen und Leser der Zeitung nicht mehr wahrgenommen haben.

Einige grundlegende Missverständnisse in der Beurteilung von Wissenschaft ließen sich ausräumen, wenn mehr Menschen klar wäre, dass wissenschaftliches Arbeiten ein Prozess ist und wie dieser funktioniert. Dieses "Science in the Making" ("Wissenschaft im Entstehen") zu vermitteln, ist schon seit Jahren ein wichtiges Ziel der Wissenschaftskommunikation. Aber es ist schwierig, mitten in einer Pandemie damit anzufangen.

Wie kann ich als Laie erkennen, an welchem Punkt sich dieser Prozess gerade befindet? Und welchen Stellenwert eine Veröffentlichung hat?

Für Außenstehende ist das wirklich schwer. In Forschungsfeldern wie der Klimaforschung gibt es regelmäßige Sachstandsberichte des Weltklimarates, des IPCC, die den Wissensstand zusammentragen und zu denen es Kurzzusammenfassungen gibt. Aber in den meisten Forschungsgebieten gibt es sowas nicht.

Generell sollte man einzelne Studien in der Wissenschaft nie überbewerten. Eine Einzelstudie, so genial sie auch sein mag, ist so gut wie nie der Weisheit letzter Schluss. Christian Drosten sagt das hinsichtlich der Corona-Pandemie auch immer wieder: Da gibt es eine Studie, die müssen wir uns nun genauer anschauen, einordnen und auch sehen, ob sich das Ergebnis in weiteren Studien bestätigt. Es ist natürlich ein wenig ermüdend, das dauernd zu betonen. Aber es ist wichtig.

In der Corona Pandemie werden oft einzelne Studien zitiert. In sozialen Netzwerken, in der Zeitung, in politischen Statements wimmelt es von Zahlen und Zwischenergebnissen, die gelesen werden, als seien sie in Stein gemeißelt. Die Menschen scheinen mit der Einordnung überfordert. Was könnte helfen?

Einerseits natürlich mehr Kenntnis des wissenschaftlichen Prozesses. Aber die ist nicht einfach zu vermitteln, und die will sich auch nicht Jeder oder Jede selbst aneignen.
Was auch helfen könnte: Guter Wissenschaftsjournalismus. Denn gute Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten sind selbst Experten für bestimmte wissenschaftliche Felder, haben also Fachkompetenz. Und sie verfügen zusätzlich über Vermittlungskompetenz, können also übersetzen und einordnen. Sie können den Bürgerinnen und Bürgern damit viel Arbeit abnehmen.

Vermutlich muss Wissenschaftsjournalismus vor allem eines können: Gut abwägen. Also: Verschiedene Seiten aufzeigen.

Vorsicht. Hierbei passiert leicht etwas, was US-Forscher "Balance as Bias" genannt haben, also "Ausgewogenheit als Verzerrung". Die Gefahr ist, dass man abwegigeren Ansichten – Leugnern des Klimawandels etwa – ein Forum gibt, weil man meint, sonst einseitig zu berichten. Bei anderen Themen, etwa bei politischen Meinungen, versucht man ja immer, verschiedene Seiten darzustellen. Aber bei Wissenschaft geht es eben nicht um Meinungen, sondern um Fakten. Und wenn man unterschiedliche Positionen zum Thema Klimawandel medial darstellt, dann stellt man damit den wissenschaftlichen Sachstand verzerrt dar.

Aber haben nicht auch Wissenschaftler in den vergangenen Monaten oftmals Ihre Meinung geäußert, auch wenn die Forschung sie noch nicht vollständig belegen konnte?

Gerade wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schnell reagieren müssen, oder auch wenn sie zu Einschätzungen von Politikern oder Journalisten gedrängt werden, äußern sie mitunter auch ihre persönliche Meinung, klar. Aber damit müssen sie sehr verantwortungsvoll umgehen. Denn das Kapital der Wissenschaft ist es ja, möglichst objektive, sachliche Einschätzungen auf Basis wissenschaftlichen Wissens abzugeben. Daher muss man immer so deutlich wie möglich machen, wie weit die eigene Expertise geht, wo sie aufhört, was Fakt ist und was Meinung. Aber klar ist auch: Das wollen nicht alle so hören oder in dieser Komplexität wiedergeben. Denn mit sachlichen Inhalten und vorsichtigen Abwägungen lässt sich eine Boulevardzeitung nun mal nicht so gut füllen. Geklickt wird mehr, wenn man Sachfragen zum Experten-Streit hochstilisiert.

Der SPD-Politiker Karl Lauterbach meinte unlängst, er hätte sich die Heinsberg Studie des Virologen Hendrik Streek angesehen, die sei aus seiner Sicht fachlich einwandfrei. Dennoch würde er hier und da andere Schlüsse aus der Studie ziehen als ihr Verfasser. An dieser Stelle scheint es schwierig zu werden: Wenn Sachinhalte unterschiedlich interpretiert werden.

Ja, gerade außerhalb der Wissenschaft. Vor allem Politik nutzt Wissenschaft oft aus taktischen Überlegungen. Oftmals zieht man Studien heran, die der eigenen Meinung entsprechen oder mit denen sich die eigenen Ziele rechtfertigen lassen.

Kommt Wissenschaft dadurch in eine undankbare Rolle?

Ja. Politik hat ja andere Ziele als Wissenschaft. In der Politik geht es um Macht, die Durchsetzung von Entscheidungen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn diese Entscheidungen sich an den wissenschaftlichen Tatsachen orientieren und Fakten nicht nach der eigenen politischen Überzeugung ausgewählt würden. Aber das ist nicht einfach.
Hinzu kommt, dass die Verschränkung von Wissenschaft und Gesellschaft selten so groß war wie in diesen Tagen. In Corona-Zeiten wird nicht nur sehr viel aktuelle Forschung produziert, sondern Wissenschaftler müssen plötzlich auch sehr viele Fragen der Öffentlichkeit beantworten. Da wird mit Sicherheit auch nach dem Ende der Pandemie einiges aufgearbeitet werden müssen, um für die Zukunft einen besseren Umgang zu finden.

Damit die Wissenschaft wieder zurück an ihren alten Platz kommt und Forscher wieder wie vor Corona gewohnt arbeiten können?

Ich sehe die aktuelle Entwicklung keineswegs nur negativ. In der veränderten Rolle und aktuell großen gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft steckt viel Potenzial. Die Menschen interessieren sich für wissenschaftliche Inhalte wie nie zuvor. Sie finden, dass sich die Wissenschaft in Öffentlichkeit und Politik einbringen soll. Und die Mehrheit der Bevölkerung nutzt vertrauenswürdige Quellen, um sich über wissenschaftliche Themen zu informieren. All das war schon vor der Pandemie so, hat sich aber noch einmal deutlich verstärkt. Und das ist gut so.