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Herr Professor Margraf, was passiert da gerade mit uns?

Wir stehen an einer Wegscheide. Einerseits gibt es Rufe nach weiteren Lockerungen der Corona-Maßnahmen.  Andererseits sehen wir, was in Ländern passiert ist, die zu früh gelockert haben. Israel zum Beispiel hatte einen strengen Lockdown, hat aber viel zu früh wieder aufgehoben. Auch in Deutschland sind die Infektionen inzwischen wieder deutlich gestiegen.

Uns Deutschen wird ja ein ziemlich hohes Angst-Potenzial nachgesagt. Hilft uns das an der Wegscheide?

Tatsächlich ist die Angst - anders als der Volksmund glaubt - kein schlechter, sondern zuweilen ein guter Ratgeber. Angst kann ein guter Freund sein, wenn sie ihre Funktion erfüllt und vor Gefahren warnt wie beispielsweise davor, sich jetzt, mit Corona, ins Gedränge zu begeben. Ein gewisses Maß an Angst sorgt dafür, dass wir uns vernünftig verhalten. Bleibt die Angst allerdings über eine längere Zeit bestehen und wird vielleicht sogar zur Panik, geht die schützende Funktion verloren. Kein Mensch kann permanente Angst aushalten.

Professor Jürgen Margraf, Angst-Forscher und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum

Professor Jürgen Margraf, Angst-Forscher und Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Ruhr-Universität Bochum

Erklärt das, wieso Menschen mit der Zeit nachlässig werden?

Das ist in der Tat ein Problem. Unser Umgang mit Ängsten ist eher ein situativer, ein komplexes Überblicken fällt uns oft schwer. Ein Grund ist, dass wir in unserem Verhalten von einem uralten genetischen Bauplan gesteuert werden. Dieser bereitet uns wunderbar auf das Leben in kleinen Verbänden in der Wildnis, in Steppen oder Waldgebieten vor. Für das Leben in größerem Gruppen dagegen sind wir nicht so gut gerüstet. So können wir uns beispielsweise große Zahlen nicht gut konkret vorstellen. Vermutlich, weil die Verbände, in denen wir uns ursprünglich bewegt haben, selten mehr als hundert Leute umfassten.

Wenn ich meinen Studenten Fotos von Menschenansammlungen zeige, stelle ich immer wieder fest, wie schwer wir uns mit Größenschätzungen tun. Sind das dreihundert? Oder achthundert? Häufig liegen die genannten Werte total daneben.

Dass eine globale Bedrohung wie die durch COVID-19 nur schwer eingeschätzt werden kann, ist vor diesem Hintergrund verständlich.

Und nicht nur in Punkto Gruppengrößen bereiten uns Zahlen Probleme. Auch so etwas wie exponentielles Wachstum ist für uns nur sehr schwer vorstellbar. Wir sehen diese Kurve und sie sagt uns nichts. Die Dimension des Ansteckungsrisikos bleibt dadurch unklar - und auch die Aufklärungsarbeit in den Medien, etwa durch Virologen und Epidemiologen - kann das nicht völlig verhindern. Je sichtbarer die Bedrohung ist, desto größer ist auch die Angst und die Bereitschaft, entsprechend Vorsorge zu treffen.

In Sachen Risikoeinschätzung stellen wir Kosten-Nutzen-Rechnungen auf: Die Maske juckt, ich schwitze, die Brille beschlägt? Und jung bin ich vielleicht auch noch, also nicht besonders gefährdet durch Covid-19? Dann werde ich mich mit der Maßnahme möglicherweise eher schwertun, der Nutzen fällt ja vor allem bei anderen an: Bei Risikopatienten, die durch mein Verhalten weniger krank werden. Covid-19 ist eine Gefahr, die sich gut verdrängen lässt.

Als in den Nachrichten über das Infektionsgeschehen in Wuhan berichtet wurde, schien Corona weit weg…

… richtig, die eigene Gruppe schien nicht direkt betroffen. Andererseits spielen noch weitere Faktoren ins Angstgeschehen mit rein. Naturgemäß löst das, was unbekannt oder neu ist, erstmal eine gewisse Angst in uns aus. Was uns dagegen nah ist oder alltäglich, lässt uns Gefahren unterschätzen. Als wir zu Beginn des Jahres erstmals von Covid-19 hörten, war das Virus fremd. Dass wir ängstlich darauf reagiert haben ist also nachvollziehbar.

Andererseits war Covid-19 in China… Gefühlt kam da also mehreres zusammen. Es war klar: Da ist etwas und es war auch recht wahrscheinlich, dass da was kommen wird. Trotzdem haben viele von uns das Thema innerlich wegeschoben. Nochmal: Es fällt uns schwer, uns von unserem kognitiven Bauplan lösen. Ich mag mich da persönlich übrigens gar nicht ausnehmen. Ich weiß noch gut, als von Kollegen aus China die ersten Päckchen mit Masken bei mir im Büro ankamen. Zu einem Zeitpunkt, als sich in Deutschland noch niemand entsprechend ausgestattet hat. Man freut sich über die berührende Geste – aber man schreckt auch ein wenig zurück.

Wenn eine Gefahr so abstrakt scheint, dass keine richtige Angst aufkommt: Wie können wir uns trotzdem schützen?

Der Einzelne kann da zunächst mal wenig tun. Wichtig ist, solche Möglichkeiten - etwa eine Pandemie durch ein gefährliches Virus - grundsätzlich in Erwägung zu ziehen und sich darauf vorzubereiten. Dazu gibt es sogenannte Pandemiepläne der Regierung, die auch im aktuellen Fall aktiviert worden sind. Allerdings wurde auch sichtbar, dass vieles nicht so gut gelaufen ist. Etwa, dass nicht für ausreichend Schutzmasken gesorgt war. Das bedeutet: wir müssen lernen, das in Zukunft zu verbessern. Je besser wir auf eine Pandemie vorbereitet sind, durch entsprechende Pläne, die Möglichkeit zu Testungen, ausreichend Krankenhausbetten und Schutzausrüstung - desto weniger Angst müssen wir haben.

Was kann aktuell dabei helfen, wachsam und vernünftig zu bleiben?

Ich finde wichtig, dass wir uns klar machen, dass wir an einer Wegscheide stehen. Wir ahnen es: Die Situation kann ganz schnell kippen. Deswegen nun panisch Schreckensszenarien zu zeichnen wäre aber genauso wenig hilfreich wie zu beschwichtigen, nach dem Motto: Deutschland ist bislang durch durchgekommen, das wird schon.

Stellen wir uns den Umgang mit COVID-19 wie ein sportliches Training vor. Man muss dranbleiben, man muss fit sein, nur so wird man Erfolg haben. Dranbleiben bedeutet für mich unter anderem: Ich informiere mich. In einer globalisierten Welt will ich nicht nur wissen, was vor meiner Haustür los ist. Ich schaue auch in die USA oder nach Südamerika. Ich bemühe mich um einen bewussten, reflektierten Umgang dabei. Wer in der aktuellen Situation viel in sozialen Netzwerken aktiv ist, ist eindeutig belasteter, haben wir gefunden. Das Risiko für Ängste und auch für Depressionen steigt.

Andersrum finden wir bei Angstpatienten, die wir aktuell befragt haben und bei denen therapeutisch interveniert wurde, Bemerkenswertes: Sie sind nicht nur im Umgang mit ihren speziellen Ängsten entspannter. Viele sind auch durch COVID-19 weniger belastet. Im Rahmen der Therapien lernen die Patienten, der Angst ins Auge zu blicken, ohne dabei panisch zu werden. Genau das ist derzeit die große Herausforderung für uns alle.